Die späten 1960er-Jahre waren in Italien eine Zeit des Aufruhrs und der Unruhen. Nach dem Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre demonstrierten die süditalienischen Arbeiter in Fiats schnell wachsenden Turiner Werken für bessere Arbeitsbedingungen und ihren gerechten Anteil am Unternehmenserfolg. Ihre Forderung lautete: „Vogliamo Tutto“ – wir wollen alles. Gleichzeitig wurde der Status quo des Automobils in Frage gestellt: Während die Motoren der Formel-1-Boliden längst von der Front in die Mitte des Chassis und damit hinter das Cockpit gewandert waren, um so das Handling deutlich zu steigern, brachen junge Autodesigner wie Giorgetto Giugiaro, Marcello Gandini und Leonardo Fioravanti eine regelrechte Designrevolution vom Zaun. Weg von den organischen und üppigen Formen, die jahrzehntelang als Inbegriff automobiler Eleganz und Schönheit galten, hin zu radikal futuristischen und geometrischen Visionen für die Autos von morgen.
Die extrem flachen, kantigen und keilförmigen Konzeptstudien von Italiens führenden Designstudios Bertone und Pininfarina überraschten mit ihren außerirdischen Formen und den messerscharfen Linien ein weltweites Publikum. Die erste Bombe ließ 1968 ließ Bertone auf dem Pariser Salon mit der Enthüllung der Marcello-Gandini-Studie Alfa Romeo Carabo platzen – eine verblüffende Abkehr vom kurvenreichen und nur zwei Jahre zuvor erschienenen 33 Stradale. Nur wenige Wochen später präsentierte Pininfarina in Turin den Ferrari P6 Berlinetta Speciale. Der von Leonardo Fioravanti gezeichnete Prototyp verzichtete zugunsten einer kompakteren, flacheren und haifischartigen Silhouette auf die bis dahin gültigen Ferrari-Proportionen mit endlosen Motorhauben und fließenden Kurven – und ließ Design-Traditionalisten sprachlos zurück. Doch gab es kein Zurück, ab nun sollte sich die Design-DNA von Ferrari für immer verändern.
Nach seinem Abschluss als Maschinenbauingenieur mit Spezialgebiet Aerodynamik und Karosseriedesign am Politecnico di Milano kam Leonardo Fioravanti 1964 im Alter von 26 Jahren zu Pininfarina . Schon bald prägte er die Designausrichtung des wichtigsten Kunden der Turiner Designschmiede. Zusammen mit seinem Kollegen Aldo Brovarone (der bereits 1965 mit seiner atemberaubenden Studie Dino Berlinetta Speciale den Grundstein gelegt hatte) entwarf Fioravanti den Ferrari 206 GT „Dino“. Benannt nach dem verstorbenen Sohn von Enzo Ferrari, kam er 1967 als erster Mittelmotor-Straßensportwagen aus Maranello auf den Markt. Der Dino setzte zwar architektonisch neue Maßstäbe, war ästhetisch jedoch noch immer in der Stilistik der 1960er-Jahre verwurzelt. Der erste Hinweis auf eine kantigere, zeitgenössischere Designsprache tauchte ein Jahr später mit dem Ferrari 365 GTB/4 auf. Genannt „Daytona“, feierte er auf dem Pariser Autosalon von 1968 als Nachfolger des Ferrari 275 GTB/4 sein Debüt. Mit scharfen Kanten und flachen, abgedeckten Scheinwerfern bereicherte der Daytona das Maranello-Programm um einen völlig neuen Look – doch im Gegensatz zu seinem größten Konkurrenten, dem Lamborghini Miura, saß sein schwerer Colombo-V12 noch immer in der Front.
Unterdessen waren Leonardo Fioravanti und das Team von Pininfarina schon zwei Schritte voraus: Für eine Premiere auf dem Turiner Salon hatten die Designer ein modernes Mittelmotor-Layout mit der damals stark in Mode gekommenen Keilform kombiniert – und damit die Blaupause für alle modernen und bis heute erschienenen Ferrari-Straßensportwagen geschaffen. Der P6 Berlinetta Speciale, so die interne Bezeichnung des Prototypen, führte eine sehr scharfe, flache und elegante Frontpartie mit rechteckigen Carello-Scheinwerfern und einem klingenartigen Kühlergrill ein. Ergänzt um „Cab-forward“-Proportionen (nach vorn gerückte Kabine), sauber gezeichnete Flanken mit nur einem Hauch von Muskeln an den hinteren Hüften und einen geduckten, keilartigen Auftritt. Im Gegensatz dazu fiel das Heck fast abrupt ab, im Stil eines Kamm-Hecks, das Abtrieb andeutete, bevor „downforce“ in aller Munde war.
Der P6 markierte eine neue Ferrari-Architektur: Der Motor saß jetzt im Rücken des Fahrers, und das Design war nicht von Nostalgie, sondern von Wind, Geschwindigkeit und Modernität geprägt. Das Modell entsprach Leonardo Fioravantis Zukunftsvision einer flachen, rasiermesserscharf geformten Berlinetta mit einem für Ferrari völlig neuen Ausdruck von Ausgeglichenheit und Zurückhaltung. Vorbei waren die üppigen Kurven und barocken Schnörkel der 1960er-Jahre; an deren Stelle rückte eine straffe, kantige Silhouette mit spitz zulaufenden Linien, die die Aerodynamik-Obsession der folgenden Jahrzehnte vorwegnahm.
Obwohl er ein Einzelstück blieb, übte der P6 tiefgreifenden Einfluss auf die künftige Designsprache von Ferrari aus. Er diente als Blaupause für den 1971 herausgebrachten Ferrari 365 GT/4 BB – der erste Vertreter in einer Reihe von Berlinetta-Boxern, die Ferraris Ära mit Zwölfzylinder-Mittelmotor-Modellen prägten. Und nicht nur das Package blieb erhalten: Fioravantis Designprinzipien – sein Gefühl für Proportionen, die minimalistischen Oberflächen, seine Fähigkeit, Ästhetik mit Aerodynamik zu verbinden – beeinflussten später auch den 308, den 512 BB, den Testarossa und sogar den 288 GTO. Selbst die heutigen Hypercars aus Maranello tragen noch deutlich die Design-DNA in sich, die Leonardo Fioravanti vor über einem halben Jahrhundert definierte.
In vielerlei Hinsicht war der P6 Fioravantis Rosettastein. War der 1799 von einem französischen Soldaten entdeckte Stein ein Meilenstein in der Entzifferung altägyptischer Schriften, so war seine P6-Studie eine Chiffre, durch die die gesamte visuelle Sprache moderner Ferrari gelesen werden konnte. Vom Moment der Enthüllung auf dem Turiner Salon an war offenkundig, dass eine neue Designära begonnen hatte – cooler, kalkulierter und doch nicht weniger verführerisch. Heute ist der P6 Berlinetta Speciale ein Kultobjekt, das vor allem Historikern und Designliebhabern ein Begriff ist. Doch um zu verstehen, welche Richtung Ferrari in den 1970er-Jahren und darüber hinaus eingeschlagen hat, muss man hier beginnen. In den stillen Gängen von Pininfarina, wo der junge Leonardo Fioravanti in aller Ruhe die Zukunft neugestaltete.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2025