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Selbst vor den imposanten Alpen ist der Bentayga S eine mächtige Präsenz

Kann ein zweieinhalb Tonnen schweres SUV Fahrspaß bieten und wollten wir jeden Tag mit ihm verbringen? Wir haben eine Woche im Engadin mit dem neuen Bentley Bentayga S verbracht, um diesen brennenden Fragen nachzuspüren.

Wenn Sie ein treuer Classic Driver-Leser sind, dann ist Ihnen vermutlich aufgefallen, dass wir zwar einen ausgeprägten Hang zu orangefarbenen Rennwagen haben, aber wenn es um die hausgroßen Luxus-Dickschiffe der Straße geht, dann eher eine konservative Konfiguration bevorzugen. 

Wir mögen grün über beige oder dunkelblau über beige. In unserer Vorstellung passt ein burgunderrotes Interieur naturgemäß nur mit einem dunkelgrauen Exterieur. Wir glauben auch, dass das schrille Grün eines Sportwagen-Cockpits einen Kontrapunkt in der kühlen Außenfarbe Silber erhält. Unsere Lieblingskonfiguration aller Zeiten? Alles in schwarz, bitte! Jetzt können Sie sich vorstellen, wie shocking es war, einen ziegelorangen Bentayga S – offizielle Farbbezeichnung „Orange Flame“ – zu erhalten, dessen Interieur von orangefarbenem Leder und schwarzem Alcantara geprägt ist, zusammen mit einer großzügigen Beigabe an Chrom und Karbon.

Aber nach nur wenigen Sekunden hatte dieses 2,4 Tonnen schwere und 550 PS starke Exemplar alle anfänglichen Vorurteile getilgt und bewiesen, dass es nicht nur idealer Cruiser für die Langstrecke ist, sondern tatsächlich Spaß macht. Waren Sie schon mal zusammen mit einer Schlange anderer Fahrer auf einer Passstraße mal hinter einem schwer schnaufenden Lastwagen gefangen und warteten schicksalsergeben auf Ihre Chance, endlich zu überholen? In einem Bentayga S brauchen Sie nur ein bisschen räumlichen Vorsprung, um das Hindernis souverän zu passieren. Das ist die wahre Superheldenpower dieses Bentley: Einen potentiellen Alptraum in eine kleine Beeinträchtigung minimieren zu können.  

Der doppelt aufgeladene 4,0-Liter-V8 entwickelt 770 NM Drehmoment und hört sich dabei an wie drohender Lawinendonner. Und er fährt sich unglaublich schnell. Die Lenkung ist überragend – wie übrigens auch das Lenkrad selbst – und sicher das überragende Merkmal des SUV. Man erhält immer starke Rückmeldung und dank beeindruckendem Engineering und einer Federung aus der Trickkiste ist Big B auch noch erstaunlich agil beim Einlenken. Auf dem Julierpass hat man nicht wie vielleicht vorher erwartet das Gefühl, den Elefant im Porzellanladen zu bändigen, sondern sich einem alerten Steinbock anzuvertrauen. Aber die Gesetze der Physik lassen sich nicht auf Dauer an der Nase herumführen, weswegen die wuchtigen Bremsen, die normalerweise in 22-Zoll-Rädern sitzen (in diesem Fall 21 Zoll für die aufgezogenen Winterreifen), bergab Höchstleistungen vollbringen mussten. Aber selbst, wenn man sie auf eine Art und Weise testet, die bei der lokalen Polizei Argwohn erzeugen würde, schenken sie dem Fahrer jederzeit Selbstvertrauen und das Gefühl, die Situation zu beherrschen. 

Auf der Autobahn oder im Stadtverkehr ist der Bentayga im Komfortmodus so leise wie ein Elektroauto. Es sei denn, man lässt The Game oder 50 Cent aus dem exzellenten Naim-Stereosystem explodieren. Im Sportmodus werden die Dinge allerdings straffer, aber nie so, dass Big B selbst so hart wie ein Brett wird. Selbst wenn man über eine Bodenwelle oder ein Schlagloch fährt, bleibt es so komfortabel wie in den anderen Modi – er wankt dann nur weniger und lehnt sich auch weniger aus der Kurve heraus. Der Kofferraum wirkt so groß wie ein Ankleideraum und der Platz für die Passagiere auf dem Rücksitz ist großzügiger als in der Business Class. Sollten Sie schon nicht mehr zu den Jüngsten zählen und Ihre Hüfte auffällig geworden sein – was, Pardon, der Fall sein dürfte, weil Sie vermögend genug sind, einen Bentayga in Betracht zu ziehen und kein Fußballstar sind -, dann werden Sie (wie jüngere auch) gerne erfahren, dass Ein- und Ausstieg mühelos zu bewältigen sind.

Gibt es Nachteile? Wir brauchten 45 Minuten, um aus einem mehrstöckigen Parkhaus auszufahren, denn unser Kurvenradius war nicht eng genug für die schmale Rampe. Wir bitten nochmals die gut zehn anderen Fahrzeuge, die hinter uns warteten, um Entschuldigung. Und selbst an einem Ort wie St. Moritz zieht der Bentayga tatsächlich Aufmerksamkeit auf sich. Andererseits haben wir es genossen, den Carspotters vor Badrutt´s Palace eine Freude gemacht zu haben. 

Was der Bentayga S überzeugend beweist, ist wie lohnend es sein kann, die persönliche Komfortzone zu verlassen. Das ist Bentley mit diesem Modell gelungen und wir sind nur zu gerne ihrem Vorbild gefolgt. Unsere Überlegung dazu: Jeder weiß, dass man jedweden Bentley in einer der von uns schon erwähnten klassischen Konfigurationen ordern kann, aber man kann sein Auto doch ganz nach den eigenen Wünschen spezifizieren. Warum sich nicht den Spaß gönnen und ein bisschen verrückt spielen? Wen interessiert, was andere denken? In einem Bentayga S kann Ihnen das so etwas von egal sein. 

Fotos: Blazej Zulawski für Classic Driver © 2023