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Zeitlos in die Zukunft – ein Gespräch mit Audi-Designchef Marc Lichte

Als Designchef von Audi gestaltet Marc Lichte den Übergang in eine elektrisierte, vollautonome Mobilität. Chefredakteur Jan Baedeker und Fotograf Stefan Bogner haben ihn in Ingolstadt besucht und über gutes Design, perfekte Proportionen und die Autos von morgen gesprochen.

Marc, bevor wir über die Zukunft des Automobils sprechen ein kurzer Blick in den Rückspiegel: Woher kommt deine Autoleidenschaft? Und wie kam es, dass du Autodesigner geworden bist?

Mein Vater ist in den 1970er Jahren Bergrennen gefahren – mit einem Porsche 911 2.7 RS. Ich war immer mit dabei, stand an der Rennstrecke und habe zugesehen, wie er den Berg hochbrettert. Das hat mich geprägt. Zuhause habe ich mit „Lego Technik“ meine Traumautos gebaut – nicht nach Anleitung, sondern nach meinen eigenen Vorstellungen. Ich wusste also früh, dass ich Autodesigner werden will. Ich konnte gar nicht anders! 

Als Autodesigner arbeitest du in einer spannenden Zeit: Überall liest man von einem Epochenwechsel, dem Übergang zum vollelektrischen, autonomen Fahren. Die Autos, die heute auf den Straßen unterwegs sind, sehen jedoch noch so aus wie immer. Wie kommt das?

Das Schlüsselwort in der Frage ist „heute“. Denn die Autos, die du jetzt auf der Straße siehst, haben wir vor mindestens fünf Jahren gestaltet. Ich arbeite seit 2014 bei Audi – damals haben wir bereits den ersten Audi e-tron entworfen. Das war ein riesiger Schritt vom Verbrenner zum Elektroauto. Momentan sind wir in beiden Welten sehr gut aufgestellt. Die vollelektrischen und automatisierten Autos, an deren wir heute arbeiten und die in wenigen Jahren auf die Straße kommen, unterscheiden sich von den aktuellen Modellen jedoch radikal. Man kann sagen: Wir erfinden das Automobil gerade ganz neu.  

Klingt spannend! Wie gestaltet man als Designer den Übergang von einer Technologie in die andere, ohne mit allen ästhetischen Konventionen und Sehgewohnheiten zu brechen? 

Die elektrischen Antriebstechnologien ermöglichen mir als Designer die Proportionen, von denen ich immer geträumt habe. Also große Räder und einen langen Radstand, kurze Überhänge und eine flache Silhouette. Der neue Audi A6 e-tron und der Q6 e-tron profitieren bereits von diesen Proportionsvorteilen. Diese Autos fährt man als Fahrer jedoch weiterhin selbst. Entsprechend gibt die menschliche Physiologie vor, wie das Interieur auszusehen hat. Wirklich spannend wird für uns Designer die nächste Phase: Denn wenn sich das Auto bereits voll automatisiert fortbewegt und man zeitweise die Fahraufgabe abgibt, werden die bisherigen Grenzen zu Möglichkeiten. Das verändert den gesamten Designprozess um 180 Grad, da wir nun von innen nach außen gestalten.

Bisher war das Exterieurdesign der wichtigste Kaufgrund für einen Audi. Verändert sich eure Rolle als Designer, wenn das Interieur zukünftig wichtiger wird?

Absolut. Ich habe in meiner Karriere mehr als 120 Autos gestaltet – alle nach demselben Prinzip. Zuerst stand der Motor fest, dann die Plattform. Anschließend hat man überlegt, ob das Auto nun zwei Sitze haben soll oder vier oder sechs, und eine entsprechende Karosserie gestaltet. Am Ende wurde ein Interieur eingefügt. Das war schon bei den großen Karosserie-Studios wie Pininfarina und Bertone in den 1960er und 1970er Jahren so und hat sich seitdem kaum verändert – bis jetzt!

Und da kommen die neuen Audi-Studien ins Spiel, richtig?

Genau. Um das Potenzial des automatisierten Fahrens für das Automobildesign zu demonstrieren und unsere Kunden auf diese neue Technologie einzustimmen, haben wir drei Konzeptfahrzeuge entworfen – den Audi skysphere, den Audi grandsphere, und den Audi urbansphere. Der skysphere ist die vollelektrische und vollautomatisierte Neuinterpretation eines Horch aus den 1930er Jahren. Je nachdem, ob das Auto automatisiert fährt oder gefahren wird, verändert sich der Radstand – vom Reisewagen zum Sportwagen mit den Dimensionen eines Audi RS 5. Der Audi grandsphere allerdings ist das erste Auto, dass wir wirklich von innen nach außen gestaltet haben. Am Anfang der Entwicklung stand die Frage nach dem „Use Case“, dem Anwendungsfall der autonomen Fahrtechnologie Level 4. Wir haben uns ganz grundsätzliche Dinge gefragt: Wie wird die Welt der Zukunft aussehen? Wie möchte der Kunde sein Auto einsetzen? Wie kann er es bedienen? Erst ganz zum Schluss haben wir die Entwicklungsarbeit mit der Gestaltung des Innenraums begonnen. Die grandsphere-Studie ist übrigens keine bloße Zukunftsmusik, sondern der ganz konkrete Teaser für ein Serienauto, eine neue Art Langstreckenmodell.

Die gute alte Limousine hat also ausgedient?

Sozusagen. In einer klassischen Limousine sitzt der Reisende in der hinteren Sitzreihe und lässt sich fahren – mit Blick auf eine Sitzlehne und den Hinterkopf seines Chauffeurs. Wenn nun aber die Technologie das Steuer übernimmt, sitze ich in der ersten Reihe ja viel schöner. Und dort möchte ich mich zurücklehnen, die Füße ausstrecken und die Aussicht genießen. Momentan sind unsere Bedien- und Sicherheitssysteme aber darauf ausgelegt, dass der Fahrer immer hinter dem Lenkrad verortet ist. Mit größerer Bewegungsfreiheit muss alles neu gedacht werden. So muss der Reisende das Auto zum Beispiel auch im Liegen bedienen können, die Airbags müssen im Sitz untergebracht werden. Für die Industrie bedeutet das eine radikale Transformation – ähnlich wie einst beim Übergang von der Pferdekutsche zum Automobil. Und diese Transformation möchte ich mit Audi entscheidend mitgestalten. 

Wie sieht das im Innenraum des Audi grandsphere konkret aus?

Da ich als Reisender nicht immer dieselbe Sitzposition habe, sondern mich freier bewegen kann, gibt es beispielsweise keine Schalttafel mehr – man kann die Funktionen des Autos stattdessen per Blickverfolgung und Spracheingabe steuern. Zudem hat jeder Insasse ein sogenanntes „MMI Touchless“, ein schönes haptisches Bedienelement für den Zugriff auf die wichtigsten Funktionen wie Sitzverstellung, Klima und Sound. Als Liebhaber alter und puristischer Autos bin ich zudem ganz froh, dass wir uns langsam von herkömmlichen Displays verabschieden können. Stattdessen haben wir eine Holzapplikation entworfen, die den Innenraum wie einen Kokon einfasst. Darauf projizieren wir den gewünschten Content – beispielsweise einen Film – in hochauflösender Qualität. Der Innenraum bleibt dadurch länger zeitgemäß als mit einem Display, das schon nach wenigen Jahren veraltet ist. 

Von außen wirkt der Audi grandsphere ja sehr klassisch und elegant. 

Danke, das ist für mich ein großes Kompliment. Denn während das Konzept selbst revolutionär ist, darf das Exterieur gerne zeitlos sein. Der Audi grandsphere ist ja so lang wie ein heutiger Audi A8L, hat aber einen viel längeren Radstand und damit einen deutlich größeren Innenraum. Das ist ein Unterschied wie beim Umzug von der Studenten-WG in die erste eigene Wohnung! Möglich macht dies ein Monobox-Volumen – ähnlich wie bei einem Van. Dass die Frontscheibe so weit vorne beginnt, der Vorderwagen so kurz und der Innenraum so geräumig ist, sieht man dem Auto aber gar nicht an. Auch aus der Dreiviertel-Heckansicht, meiner Lieblingsperspektive, sieht das Auto aus wie ein klassischer Gran Turismo. Das werden wir so auch beim Serienmodell umsetzen. 

Verglichen mit vielen aktuellen Autos ist das Design des Audi grandsphere sehr zurückgenommen, minimalistisch. Mir kam spontan Mies van der Rohes Pavillon in Barcelona in den Sinn. In der klassischen Architektur- und Designmoderne begann die Denkarbeit ja auch beim „Use Case“, bei den menschlichen Proportionen und Lebensweisen. Dabei sind viele Klassiker entstanden, die wir heute noch für ihre funktionale Schlichtheit verehren. 

Genau. Wie du wahrscheinlich auch bin ich zu Hause umgeben von Design-Klassikern, die vor mehr als einem halben Jahrhundert entworfen wurden – und die ich mit ins Grab nehmen werde. Ich glaube fest daran, dass gutes Autodesign nachhaltig sein sollte und nicht alle paar Jahre durch etwas ganz Neues ersetzt werden muss. Warum nicht stattdessen die Elektronik, den Innenraum durch stetige Updates aktualisieren? Das geht jedoch nur mit einem zeitlosen, zurückgenommenen Design.

Ist die Ära der dramatischen, aggressiv gestylten Auto-Ungetüme also vorbei?

Das würde ich sagen, ja. Man muss bedenken, dass die heutige Verbrenner-Architektur keine idealen Proportionen erlaubt. Also wird mit Linien, Brüchen und ähnlichen Effekten kaschiert. Bei den ersten Elektroautos ging es vielen Herstellern zudem darum, aufzufallen, um die neuen Technologien sichtbar zu machen. Nun beginnt für uns Autodesigner eine neue Phase, in der wir nichts mehr kaschieren müssen, sondern mit Traumproportionen arbeiten dürfen. Gleichzeitig wollen wir bei Audi die Autos menschlicher und friedlicher erscheinen lassen.

Das typische Auto unserer Zeit ist der Crossover, eine eierlegende Wollmilchsau aus Sportwagen, Geländewagen, Familienauto. Muss Automobildesign auch in Zukunft so viele Kompromisse eingehen?

Auch das wird sich ändern. Wenn ich sieben, acht Jahre in die Zukunft blicke, sehe ich kleinere Portfolios mit deutlich spitzer positionierten Modellen. Es kommt immer auf den „Use Case“ an. Wir arbeiten momentan an ganz verschiedenen Konzepten. Bei jedem Auto, das wir bauen, möchte ich denken: Das trifft es auf den Punkt! 

Wenn du dir dein persönliches Traumauto bauen könntest, was wäre das?

Das perfekte Auto hat für mich einen tiefen Schwerpunkt und zwei Sitze. Es ist fahraktiv, ästhetisch und zeitlos. Der Audi AI:RACE, den wir vor einigen Jahren entworfen haben, kommt dem schon ziemlich nahe. 

Nach einem Tag, den du gedanklich in der Zukunft unterwegs warst – wie sieht dein Feierabend aus?

Dann steige ich oft in meinen alten Porsche 911T mit nur 125 PS, drehe die Fenster runter und treffe mich mit Freunden. Die Zukunft des Automobils mitzugestalten und gleichzeitig die schönsten Autos der Vergangenheit zu genießen – etwas Besseres kann ich mir nicht vorstellen. 

Fotos: Stefan Bogner, Herausgeber des Magazins Curves, für Classic Driver © 2022