Nach einem kurzen Flug ab London landen wir auf der britischen Kronbesitzung und Insel Jersey - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen amerikanischen Bundesstaat. Dieser kleine Felsen im Ärmelkanal gehörte einst zu der viel größeren Landmasse auf der anderen Seite des Atlantiks, daher die Ähnlichkeit. Ich wusste über diese Insel quasi nur, dass sie näher an Frankreich als am Vereinigten Königreich liegt - nur 14 Meilen vor der französischen Küste – und, dass sie in der Vergangenheit eine komplizierte Rolle spielte. Man denke nur an Wilhelm den Eroberer, die Einnahme Großbritanniens durch die Normannen und später an den Hundertjährigen Krieg um den französischen Thron (ja genau, der mit Jeanne d'Arc).
Ach, und noch etwas wusste ich: Die britische Kult-Krimiserie "Bergerac" wurde hier gedreht. Darin fuhr der titelgebende Detektiv als Teil des fiktiven Ausländerbüros in einem burgunderroten Triumph Roadster von 1947 über Jerseys 350 Meilen (rund 560 Kilometer) lange, kurvige Straßen. Und das sind genau die gleichen, auf denen aktuell gefahren wird. Nur sind jetzt die von uns erlebten Autos etwas anders. Nein, ich meine nicht Bergeracs Triumph, sondern anders als alles, was ich je gefahren bin. Die Autos, mit denen ich unterwegs war, sind nicht nur elektrisch und brandneu - gefertigt aus Stahl, Aluminium und Kohlefaser - sondern sie sind auch dem legendären Bentley Blower aus den späten 1920er Jahren exakt nachempfunden.
Der Blower wurde ursprünglich von dem berüchtigten "Bentley Boy" Sir Tim Birkin gebaut und erlangte Berühmtheit (nicht zuletzt: traurige Berühmtheit) durch seinen Kompressor von Amherst Villiers, der kurzerhand vorne am 4½-Liter-Bentley montiert war. Der Clou? Die Blower Juniors, die wir fahren, sind zu 85 Prozent maßstabsgetreu. Bevor Sie jetzt sagen: "Was zum Teufel?", lassen Sie uns ein wenig zurückspulen. Bentley war so freundlich, das Original Werksauto Nr.2 (UU 5872) mitzubringen, das von Birkin selbst gefahren wurde und heute mit einem Wert von über 25 Millionen Pfund der wertvollste Bentley überhaupt ist. Das gab mir die Gelegenheit, mich mit seiner Geschichte zu befassen, die ebenfalls kompliziert ist. Während Birkin damit beschäftigt war, den Bentley-Vorsitzenden Woolf Barnato davon zu überzeugen, 55 Blower für die "Homologation" zu bauen (von denen fünf für den Rennsport bestimmt waren), war W.O. Bentley selbst bekanntermaßen dagegen. Er meinte, dass der aufgeladene Motor nicht renntauglich war. Und er sollte Recht behalten.
Sicher, mit 240 PS war der Blower zu jener Zeit wahrscheinlich das schnellste Auto der Welt (und ich kann nach einer Fahrt bestätigen, dass er sich auch heute noch verdammt schnell anfühlt). Aber er hat nie ein Rennen gewonnen - der zweite Platz auf der Strecke in Pau (F) war das beste Resultat, und in Le Mans kam er nicht einmal ins Ziel. W.O. sollte jedoch später mit dem 6,5-Liter-Speed Six, dem erfolgreichsten Bentley aller Zeiten, der die Konkurrenz in Le Mans 1929 und 1930 vernichtend schlug, seinen Auffassung bestätigt sehen. Aber wie so oft ist das beste Auto nicht unbedingt auch das berühmteste. Ich fahre also in einem "Red Pack" Blower Jr. durch die engen Gassen Jerseys und nicht mit dem inspirierenden Speed Six oder dem stattlichen Eight Litre, sondern mit einer anderen Legende: Blower No.1, auch bekannt als das Brooklands-Schlachtschiff. Nimm das, W.O.!
Da ich früher einmal das Original fuhr, fielen mir sofort einige wichtige Unterschiede auf. Erstens: der Antriebsstrang. Statt 240 strammer Pferde habe ich nur etwa 20. Das große Turboladergehäuse vorne? Es enthält jetzt einen Ladeanschluss und dient rein dekorativen Zwecken. Außerdem sitze ich im Cockpit weder rechts noch links, sondern in der Mitte, und ein Beifahrer müsste hinter mir sPlatz nehmen. In diesem Szenario hätten wir beide die Sicherheitsgurte angelegt - ein Luxus, den es beim Original nie gab.
Ebenfalls neu: eine Rückfahrkamera, die diskret in der Gurtführung integriert ist und ihre Bilder auf einen kleinen Bildschirm überträgt, der gleichzeitig als Uhr und Navigationsgerät dient. My Blower Jr. verfügt auch über einstellbare Fahrmodi: Comfort, Bentley und Sport. Damit lassen sich die Gasannahme optimieren und die bescheidene verfügbare Leistung einstellen. Verzögert wird mit den Brembo-Scheibenbremsen einer Ducati Diavel, und das ist auch gut so, denn bei einer Höchstgeschwindigkeit von 45 Meilen pro Stunde (gut 70 km/h) fühlt sich die Sache schon aufregend unübersichtlich an. Alles, was über dem Tempo von 30 Meilen liegt, sorgt für eine starke Mischung aus Adrenalin und existenzieller Angst - vor allem, wenn ein Lastwagen in einer unübersichtlichen Kurve auf Sie zukommt.
Abgesehen von diesen Upgrades des 21. Jahrhunderts – etwa dem für einen niedrigen Schwerpunkt tief im Wagen installierten Batteriepaket und dem Fehlen eines Getriebes - ist der Rest so abgestimmt, dass es beim Fahrerlebnis dem des Originals aus den 1920er/30er Jahren ähnelt. Es gibt natürlich keine Servolenkung. Die Federung übernehmen Blattfedern mit Reibungsdämpfern, die mit Hilfe von keinem Geringeren als Andy Wallace abgestimmt wurden. Das fein gearbeitete Armaturenbrett, die zeitgenössisch wirkenden Hebel (von denen einer der originalen Zündverstellung ähnelt), das viele Leder und die historisch anmutenden Schalter für Licht und Blinker unterstreichen den Vintage-Charakter. Sogar die Hupe stammt direkt aus den Roaring Twenties, und ja, ich habe sie ausgiebig benutzt, um interessierte Passanten zu grüßen. Es ist teils Auto, teils Achterbahnfahrt, teils Geschichtsstunde. Was für eine Maschine!
Auf schlechten Straßen fährt sich das Original aufgrund des längeren Radstands und des höheren Gewichts sogar besser – der Blower Jr. wiegt nur 500 Kilogramm. Aber das ist mein einziger wirklicher Kritikpunkt. Mit dem Jr. macht das Fahren einfach Spaß. Seine dünnen "Asphaltschneider"-Reifen folgen jeder Spurrille und zwingen zu konzentriertem Lenken, um nicht von der Bahn abzukommen. Aber das ist keine lästige Pflicht, sondern eher animierend. Wenn man einen funktionalen Kofferraum (anstelle des Kraftstofftanks) hätte, in dem ein Ladekabel oder eine Einkaufstasche Platz finden würde, könnte ich mir sogar vorstellen, ihn jeden Tag zu benutzen, etwa bei Fahrten zum Einkaufen oder zum Strand. Mit einer Reichweite von 65 Meilen (etwas mehr als 100 Kilometer) und normaler Straßenzulassung eignet sich der Wagen aber selbst für den alltäglichen Pendlerverkehr.
Der Haken? Der Preis. Dieses handgefertigte Spielzeug für Erwachsene kostet satte 129.500 Pfund (vor Steuern und Auslieferung, rund 152 800 Euro). Das ist etwa so viel wie für einen Lotus Emeya.
Natürlich ist dieser Vergleich ein wenig absurd. Niemand, der ernsthaft ein richtiges Auto sucht, egal ob mit Elektro- oder Benzinantrieb, wird einen Blower Jr. kaufen. Dies ist ein Auto für eine andere Art von Käufer, etwa den millionenschweren Sammler, der es einfach kauft, weil er es kann. Und weil Hedley Studios eine Reihe von Individualisierungsoptionen anbietet - Lackierungen, Verkleidungen und anderes mehr - können Sie Ihren Jr. in jeden klassischen Bentley verwandeln, sogar in den mächtigen UU 5872. Wenn das Original 25 Millionen Pfund wert ist, wirkt der Junior da nicht wie ein Schnäppchen?
Wenn ich einen Blower Jr. hätte, würde ich ihn so oft wie möglich benutzen. Wie mir der Gründer und Geschäftsführer Ben Hedley erzählte, schauen sich manche Käufer ihre Bugatti-, Aston Martin- oder Ferrari-Repliken gerne einfach nur an. Andere schaffen es dagegen, sie anzumelden und zu fahren. Ein Besitzer legte in einem Jahr beeindruckende 5.000 Kilometer zurück. Ich finde, das verdient eine eigene Fernsehserie. Letztendlich versucht der Blower Jr. nicht, praktisch oder rational oder besonders modern zu sein. Er ist eine Hommage an die Geschichte, an die Exzentrik und an die Art von technischem Wahnsinn, durch den die ursprünglichen Bentley Boys zu Legenden wurden. Er wird Ihr Leben nicht verändern, aber vielleicht fühlt sich Ihr morgendlicher Arbeitsweg dann wie eine Runde durch Brooklands an. Und mal ehrlich, ist das nicht der Sinn der Sache?