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Wir waren mit Radfords Lotus 62/2 auf Testfahrt in Los Angeles

Noch vor der ersten Auslieferung des Lotus 62/2 Coachbuilt by Radford waren wir mit an Bord für eine exklusive erste Ausfahrt durch den Santiago Canyon in Orange County. In Radfords Hauptquartier in Newport Beach hat uns Ant Anstead anschließend die neuesten technischen Entwicklungen verraten.

Wenn Sie die letzten zwölf Monate nicht als Eremit in einer Höhle verbracht haben, dann dürfte Ihnen vermutlich die Wiedergeburt von Radford, einer ziemlich coolen Individualisierungsfirma in Kalifornien, deren Herz auch britisch schlägt, nicht entgangen sein. Letztes Jahr haben wir uns mit den Machern von Radford zusammengesetzt, um mehr über ihren eben enthüllten Supersportwagen zu erfahren. Für alle, die diese Premiere verpasst haben: Die neu umgestaltete Unternehmung, an deren Spitze Ant Anstead, Jenson Button und Roger Behle stehen, streb ehrgeizig eine neue Ära der sonderangefertigten Automobile an. Zu dieser Zeit vor einem Jahr hat Radford die erste Partnerschaft mit einem Hersteller angekündigt und bereits im August gewannen wir einen ersten Eindruck des exquisit gestylten Lotus Type 62/2 mit der Handschrift von Radford. Ein bemerkenswertes erstes Auto, um einen Marken-Relaunch zu starten, vor allem auch, weil Lotus diese Art von Zusammenarbeit seit Jahrzehnten nicht mehr unternommen hat.

Natürlich sind wir alle von den historischen Zitaten und von den Stallfarben aus Zeiten der Tabakwerbung begeistert, aber bis jetzt hat man doch wenig über die Leistung des Autos und des Engineering erfahren. Bis jetzt. Classic Driver freut sich sehr, Ihnen einen ersten Blick unter die Haut von Radford Motors erster Schöpfung zu ermöglichen. Und wie wir dabei gelernt haben, ist der 62/2 weit mehr als eine Retro-Pastiche oder ein Lotus im Redesign. Weit, weit gefehlt. Nachdem wir das Team für eine Testfahrt auf den malerischen Canyon-Straßen Südkaliforniens begleiteten, waren wir mit Ant Anstead in Radfords Newport Beach-Zentrale verabredet, um zu erfahren, was sich unter dieser schönen Karosserie verbirgt und warum der 62/2 wichtig ist.

„Unsere TV Show „Radford Returns“ hatte am 22. Januar in Großbritannien und den USA Premiere und das war auch die letzte Information, die wir kommuniziert haben. Die Sendung dokumentiert, was für mich die erste Hälfte des Prozesses darstellt  - Radford neu zu beleben, die Partnerschaft mit Lotus, etwas zu bauen, was effektiv ein Prototyp und Designkonzept ist. Seit dieser Premiere hat eine Unmenge an Re-Engineering unter der Metallhaut stattgefunden. Das ist jetzt unsere erste Gelegenheit, zu erzählen, was sich bei uns seitdem getan hat.“

„Der Ausgangspunkt für dieses erste Auto wurde von Jenson bestimmt: Er wählte dafür den sowieso schon beeindruckenden Lotus Exige. Als Basis ist der Exige schon eine Klasse für sich, denn er ist sehr elementar, sehr unmittelbar, sehr analog – wir hätten es auch damit belassen können. Was wir aber nicht gemacht haben. Alle wissen, dass wir dieses Auto länger und breiter entworfen haben. Für die TV Show waren die technischen Lösungen noch nicht ausgearbeitet, weil wir zunächst das Karosseriedesign entwickelten. Aber für Kundenfahrzeuge gehen wir noch ein paar Schritte weiter. Es beginnt mit der Entwicklung eines neuen Heck-Spaceframe. Durch Jensons Verbindungen in der Formel 1 konnten wir uns an ROCK wenden, ein Weltklasseteam von ehemaligen F1-Ingenieuren, um durch eine umfassende Neukonstruktion und Entwicklung des Heck-Spaceframe das Auto länger und leichter zu bekommen. Das komplette Fahrzeug wiegt annähernd 960 Kilo und ist damit heute das leichteste Supercar überhaupt.“ Obwohl das berühmte stranggepresste und verbundene Aluminiumchassis des Exige von Lotus geliefert wurde, hat der neue Radford kaum noch etwas mit dem Lotus-Sportwagen gemein.

Wie Ant erzählt: „Das Auto besitzt komplett neue Querlenker, neue Stiele, neue Naben und sogar Antriebswellen aus Titan. Alles wurde individuell maschinell gefertigt, alles Barren. Der obere Querträger ist aus Karbon, wir haben auch Karbonräder mit gefrästen Magnesium-Mittelstücken, die enorm Gewicht einsparen. Wir haben uns für vierfach verstellbare Dämpfer entschieden und wir haben einen elektronischen Hubbausatz eingebaut, damit das Auto Bodenschwellen und Einfahrten passieren kann. Das sind Beispiele für die Detailarbeit, die in dieses Auto geflossen ist.“ Es hat den Anschein, dass kaum eine Komponente im 62/2 nicht dem Radford-Treatment unterzogen worden ist, inklusive des komplett überarbeiteten 3,5-Liter-V6.

„Jeder Radford-Motor“, erklärt Anstead, „wird in Österreich von JUBU Performance gebaut und fast alles an dem Antrieb ist neu: neue Kolben, neue Pleuel, neue Kurbelwelle, neue Zylinderköpfe, neue Turbolader. Wir haben den Auspuff ausgewechselt sowie die elektronische Steuereinheit und wir haben es geschafft, den Motor um 100mm  nachvorne zu bewegen und ihn um 80mm dank eines Trockensumpfsystems abzusenken. Die meisten Kunden haben ihr Auto für zwischen 558 und 608 PS konfigurieren lassen. Und mit diesem Leistungsgewicht…aber lassen Sie sich überraschen.“

Man darf nicht vergessen, dass Radford sich als Coachbuilder und nicht als Hersteller betrachtet. Das heißt, dass jedes Auto wie maßgeschneidert für den Kunden ist. „Abgesehen vom JPS, der ein fest konfiguriertes Modell ist, sind die Ausstattungsoptionen schier endlos. Für uns war es hochinteressant zu beobachten, wie unsere Kunden ihr Auto konfigurieren. Es war tatsächlich faszinierend in ihre Köpfe zu schlüpfen. Wir haben das Interieur komplett neu entwickelt, damit alle Paneele leichter sind, zugleich haben wir die Sitzposition verändert. Wir haben viel Zeit in den Innenraum investiert, um ein Le Mans-Feeling zu erzeugen. Wir wollten es analog halten und haben ein Minimum an beweglichen Teilen damit alles funktional ist. Mir gefällt es, dass wir mit nur einer Handvoll Schalter auskommen. Unser Auto fühlt sich an wie ein Rennwagen – ganz offensichtlich an die Tradition der Marke angelehnt.“

„Wir haben auch einige der aufwändigen Verkleidungen, die im Heck verbaut worden wären, entfernt. Uns wurde klar, dass wir diese Partie mitsamt unserem neuen Spaceframe, dem Karbon-Querträger und den wirklich schönen Stoßdämpfern und Querlenkern nicht verdecken wollten. Wir wollten bei Öffnen der Heckklappe diesen Rennwageneindruck erreichen. Dieser 62/2 sollte aussehen, als wäre er ganz wie zuhause bei der Vorbereitung in den Paddocks von Le Mans – und bereit, rauszufahren, um anzugreifen.“

In den letzten Jahren avancierte die digitale Konnektivität zu einem zunehmend wichtigen Aspekt unseres Fahrerlebnisses. Auch dafür hat Radford eine Lösung gefunden. Art Anstead erzählt: „Wir haben eine Radford-App entwickelt. Gemäß Colin Chapmans Philosophie, dass man Leichtigkeit hinzufügt, haben wir diskrete Lautsprecher im Auto integriert, aber ohne Stereosystem. Ihr Smartphone ist das System: Es sitzt dann auf einem Magnet auf dem Armaturenbrett und die Radford-App öffnet Karten, Musik, Kontakte und Details über das Auto. Es war für uns sehr spannend, diese Applikation zu entwickeln und wir denken, dass andere Kleinserienhersteller unsere technologische Möglichkeit für sich übernehmen werden. Es ergibt doch Sinn, oder? Jeder trägt ein Handy mit sich herum, also warum es nicht ins Fahrzeug integrieren? Das wäre auch Colin Chapmans Ansatz gewesen.“ Offenkundig definiert sich Radford Motors durch seine konstruktiven Prinzipien und die umfassende Aufmerksamkeit für Engineeringaspekte und -details in Kombination mit dem Raffinement einer Sonderanfertigung.

„Wir haben uns von Anfang an gefragt, was würde Colin Chapman tun, was Harold Radford? Chapmans Agenda war sehr deutlich: So wenig bewegliche Teile wie möglich, um ein effektives Ergebnis zu erzielen. Bei Harold Radford hingegen dreht sich alles um Verfeinerung, Komfort und Individualität. Das Bemühen, diese Balance zu halten, durchdrang buchstäblich jeden einzelnen Komponenten. Was wir bisher veröffentlicht haben, ist eine A-Oberflächen-Visualisierung des ersten Radford-Autos seit Jahrzehnten und des letzten Benzin-Lotus überhaupt, was einfach toll ist. Die meisten halten das Fahrzeug auch für sehr attraktiv, zugleich haben wir die Tradition des ursprünglichen 62 – wie ich finde- gut übersetzt. Ich denke, wir haben die Design-DNA verkörpern können. Man sieht das, wenn sie neben einander parken. Und das zu einem Zeitpunkt, dem die Historie Relevanz besitzt. Aber als Leistungsträger, der beanspruchen kann, das derzeit weltweit leichteste Supercar zu sein, finden wir das Engineering sogar noch spannender als die Optik. Ja, sieht gut aus, aber wie sich dieses Auto auch noch fährt!“

„Nehmen wir beispielsweise diese Stiele: Sie gefallen mir so gut, dass ich sie bei mir in ein Regal aufstellen würde. Aber seien wir ehrlich, die meisten Menschen werden sie nie zu Gesicht bekommen. Man kann sie nicht sehen, weil die Karbonscheiben so groß dimensioniert sind. Niemand wird wissen, dass dieses besondere Stück in der Konstruktion steckt, aber wir wissen das und wir wissen auch, dass es für eine genaue Aufgabe konzipiert worden ist. Wenn man ein Gramm einsparen kann oder die Leistung optimieren kann, dann tut man das. Wir haben bei diesem Auto keine Kompromisse zugelassen. Alles wurde ausdrücklich mit dem Ziel Leistung entwickelt.“

Ant Ansteads Leidenschaft für Radford ist mit Händen zu greifen. Es geht um mehr, als ein Projekt aus Passion zu verwirklichen: Für das Team in Newport Beach verkörpert Radford alles, was ein Auto sein sollte und sein könnte. Ein Auto, das durch Prinzipien definiert wird und kompromisslos gebaut wurde. Sie haben die Gelegenheit, den Lotus 62/2 Coachbuilt by Radford live und hautnah vom 23. – 26. Juni beim Goodwood Festival of Speed zu erleben. Jenson Button selbst wird diese außergewöhnliche Schöpfung beim Bergrennen fahren. Das darf man sich nicht entgehen lassen.

Text von Daniel H. Lackey / Fotos von Huckleberry Mountain for Classic Driver © 2022