Zeitlos, begehrt, verehrt – der Porsche 911 ist die Ikone unter den Sportwagen, auf die sich fast alle Menschen einigen können. Nur einmal gelang es Porsche, mit dem Elfer zu polarisieren: Als 1997 die fünfte Generation mit wassergekühltem Boxermotor und Scheinwerfern im Spiegelei-Design auf die Strasse kam, standen die Porsche-Puristen kurzzeitig Kopf. Und obwohl sich die Generation 996 blendend verkaufte und das Unternehmen zurück auf die Erfolgsspur führte, hallte die Kritik im kollektiven Bewusstsein nach. So kam es, dass sich die Preise für die klassische luftgekühlte Elfer-Generation 993 in den vergangenen zehn Jahren in ungeahnte Höhen schraubten, während der wassergekühlte Nachfolger 996 erschwinglich blieb – und somit auch für jüngere Enthusiasten zwischen dreissig und vierzig Jahren interessant wurde. Enthusiasten wie Andrea, Nico, Silvano und Ted.
Wer in der Schweiz den Puls der Automobilkultur und die neuesten Trends der Avantgarde erspüren will, wird oft nicht in Basel, Genf oder Zürich fündig – sondern in St. Moritz. Schliesslich zeigt sich in dem mondänen Alpenort seit Jahrzehnten die internationale Hautevolee mit den angesagtesten Grand Tourern und Geländewagen, während sich auf den Engadiner Alpenpässen die seltensten Sportwagen tummeln. Auch die neuesten Klassikertrends werden oft in St. Moritz geboren. Und so kommt es, dass man jüngst zwischen Albula- und Julierpass immer öfter die charakteristischen Scheinwerfer eines Porsche 996 mit Bündner Nummernschildern im Rückspiegel erblickt. Abends oder am Wochenende kommt die lokale Porsche-Community hier zusammen, um das alpine Revier mit ihren jungen Klassikern aus Zuffenhausen im Rudel zu durchstreifen. Doch warum sind gerade die einst so polarisierenden Elfer so beliebt bei den jungen Kreativen von St. Moritz? Ein Treffen mit vier Freunden und ihren Sportwagen am Berninapass soll aufklären.
„Ich habe schon immer ein Faible für Underdogs gehabt“, lacht Andrea Klainguti. „Vor zwei Jahren konnte ich mir den Traum vom eigenen Porsche 911 endlich erfüllen.“ Der Kreativdirektor und Fotograf wurde im Engadin geboren und schon früh von seinem Vater mit der Leidenschaft für schnelle Autos angesteckt. Seine Rennlizenz machte er am Steuer eines Porsche 911 SC von 1982 auf dem Hockenheimring. Tagsüber arbeitet Andrea bei einer Kommunikationsagentur in St. Moritz, doch nach Feierabend lässt er seinen schwarzen Porsche 911 Carrera von 1997 mit den nephritgrünen Sportsitzen am liebsten über den Berninapass fliegen. „Mein Carrera hatte schon mehr als 200.000 Kilometer auf dem Tacho und stand verstaubt in einer Garage, doch der Sound des offenen Auspuffs hat mich überzeugt. Seitdem geniesse ich jeden Tag hinterm Steuer – egal, ob ich mit dem Porsche zum Einkaufen fahre, mit meinem Sohn zur Kita, in die Familienferien oder zum Snowboarden.“
Als Exemplar aus dem ersten Produktionsjahr verfügt sein Elfer nur über eine simple Traktionskontrolle. Gleichzeitig ist der puristische Carrera sogar 30 Kilogramm leichter als der GT3 der 996-Generation. „Mein Porsche fährt theoretisch wie auf Schienen, doch die 300 PS auf den Hinterrädern wollen beherrscht werden. Für ein 25 Jahre altes Auto ist er wirklich verblüffend schnell!“ Es ist die Kombination von analogem Fahrerlebnis und der richtigen Dosis moderner Technologie, die es Andrea angetan hat. „Mein liebstes Designdetail sind die Leuchten, die Pinky Lai damals entworfen hat, und an denen sich manche Puristen gestossen haben. Sie unterscheiden den 996 von allen Elfer-Generationen zuvor und danach – gerade das macht sie aus meiner Sicht so cool.“ Obwohl die Preise für „Spiegelei-Porsche“ seit dem 25. Jubiläum steigen, sieht Andrea seinen Carrera nicht als Investment. „Ich denke nicht ans Verkaufen. Lieber fahre ich ihn, bis die Räder abfallen!“
Auch bei Ted Gushue, Chefredakteur des Instagram-Magazins Type 7, lag die Begeisterung für Porsche in der Familie. Seine Kindheit verbrachte der Amerikaner auf dem Rücksitz eines silbernen G-Modells aus dem Jahr 1976, das seit den frühen Neunzigerjahren in Familienbesitz ist. In seiner Wahlheimat St. Moritz ist Ted meist hinter dem Steuer seines Porsche 911 Turbo mit X50-Performance-Paket zu sehen. „Ich habe nie verstanden, warum dieser Elfer so polarisierte. Als er auf den Markt kam, war ich ein Teenager und habe ihn verehrt. Der Porsche 996 Turbo aus dem Videospiel Need For Speed: Porsche Unleashed war das Objekt meiner Begierde. Als ich ihn mir endlich leisten konnte, war ich ganz beglückt, wie günstig er inzwischen geworden war.“
Teds Turbo wurde im Jahr 2001 gebaut und ist in der Farbe Seal Grey Metallic lackiert, der Innenraum ist schwarz beledert – genau wie der erste Carrera GT. „Ich liebe diese Farbkombination, sie unterstreicht die Linien wirklich perfekt“, erklärt Ted. „Besonders gut gefallen mir die Lufteinlässe vor den Hinterrädern: Die sind gleichzeitig elegant und unglaublich prägnant.“
Doch letztendlich war es die Kombination aus ästhetischem Understatement und schier unbegrenzter Kraft, die ihn vom Turbo überzeugte: „Das Auto ist eine cruise missile – vor allem mit dem X50-Performance-Paket. Man gleitet mit 250 km/h über die deutsche Autobahn und ist einfach nur glücklich.“ In den Schweizer Bergen ist der Journalist, Herausgeber und Fotograf freilich etwas langsamer unterwegs. Und doch haben es ihm die Serpentinen rund um St. Moritz angetan: „Es sind einfach die besten Strassen der Welt. Doch das Wetter kann hier in den Bergen blitzschnell umschlagen – also braucht man ein Auto, auf das man sich bei allen Bedingungen verlassen kann.“ Ein Auto wie den Porsche 911 Turbo mit seinem Allradantrieb.
Dem Turbo-Trumpf traut auch Silvano Vitalini. Der Schneider, Sportler und Unternehmer ist im Engadin aufgewachsen und in St. Moritz zuhause. Der omnipräsenten Autokultur seiner Heimat ist er ebenfalls früh verfallen. Sein Porsche 911 Turbo mit Handschaltung lief im Jahr 2002 vom Band und ist in einem eleganten Dunkelblau lackiert. Die Ledersitze sind cremefarben. „Mitte Dreissig ist genau das richtige Alter, um sich endlich einen Porsche 911 Turbo zu leisten“, sagt Silvano mit einem Augenzwinkern. „Diesen Hüften und Lufteinlässen konnte ich einfach nicht widerstehen. Und ist diese Farbkombination nicht perfekt?“
Die Ausstattung, die Leistung, das Design des Elfer-Topmodells der frühen 2000er-Jahre haben ihn vollends überzeugt. Heute nutzt er den Porsche im Alltag. „Der 996 Turbo bietet einfach unglaublich viel fürs Geld. Und für ein 20 Jahre altes Auto ist er verblüffend modern und verlässlich. Man kann ihn bei jedem Wetter aus der Garage holen.“ Wenn Silvano nicht über die Skipiste kurvt, ist er am liebsten auf dem Bernina-, Albula- oder Malojapass mit seinem Porsche unterwegs. Oft stösst bei den Passrundfahrten ein zweiter Elfer mit dazu. Was könnte schöner sein, als die menschenleeren Kurven und Kehren back to back auf der Ideallinie nachzufahren?
Fast scheint es, als hätten sich die jungen Elfer-Freunde von St. Moritz mit ihrer Leidenschaft für den 996 angesteckt. Für Nico Camenisch, der in St. Moritz aufgewachsen ist und als Automobilmechatroniker und -diagnostiker eine Werkstatt in Pontresina leitet, ist es sogar der dritte seiner Art. „Ich habe schon immer von einem Porsche 911 geträumt. Der 996 war einfach der einzige klassische Elfer, den ich mir als junger Mensch leisten konnte. Und je mehr ich mich mit ihm auseinandergesetzt habe, umso grösser wurde meine Freude daran.“
Nach einem Carrera 4 und einem Carrera 4S fährt er heute einen schwarzen Porsche 911 GT3 aus dem Jahr 2002. „Ab Werk war das Auto eigentlich ein Carrera“, erklärt Nico. „Später wurde er jedoch von Porsche auf Kundenwunsch mit den Hauptkomponenten auf einen GT3 umgebaut. Gegenüber dem ‚originalen‘ GT3 ist das Interieur vergleichsweise komfortabel geblieben. Es gibt keine Rennsitze, keinen Überrollkäfig. Ich mag auch die filigrane Form. Es ist sozusagen ein früher GT3 mit Touring-Paket.“
Nicos Porsche 911 waren allesamt handgeschaltet. Nach zwei Allrad-Elfern musste er sich allerdings daran gewöhnen, einen 911 mit Heckantrieb zu fahren. „Er ist deutlich leichter und verzeiht nicht so viel, wenn man ihn sportlich an seine Grenzen bringt.“ Vor allem auf seiner Lieblingsstrasse, dem steilen und kurvenreichen Malojapass, will der GT3 beherrscht werden. Trotzdem ist Nico das ganze Jahr über mit seinem puristischen Elfer unterwegs, sogar im Schnee oder auf der Jagd – einer Leidenschaft, die er mit Andrea und Silvano teilt. „Wie schon Ferdinand Porsche gesagt hat: ‚Man kann einen Porsche 911 einfach für alles brauchen‘.“
Eigentlich liegen die Gründe für die alpine Porsche-Gemeinschaft auf der Hand: Während man sich in Zürich, Mailand oder Paris nach der Arbeit zum Apéro an der Bar trifft, dreht man in St. Moritz vor dem Abendessen eben noch eine schnelle Serpentinenrunde. Und der agile, leichte, analoge und erschwingliche Porsche 996 ist dafür einfach der perfekte Sportwagen. „Hier im Engadin haben wir schliesslich die schönsten Pässe vor der Haustür, man trifft sich ständig zum Fahren. Das schweisst zusammen.“ Und wenn die Reifen und Bremsen zwischen Julier- und Ofenpass doch einmal etwas mehr beansprucht wurden, kümmert sich Nico in seiner Werkstatt darum, dass die Elfer seiner Freunde auch für die nächste Feierabendausfahrt perfekt dastehen. Und wer sagt schliesslich, dass man zum Abendessen wieder zuhause sein muss? Oben im Ristorante „Albergo Cambrena“ am Berninapass soll es schliesslich die besten Pizzoccheri für einen Boxenstopp geben. Oder vielleicht doch lieber Rösti mit Spiegelei?
Fotos: Fabrizio D'Aloisio