In der US-Armee kursierte das geflügelte Wort „You don’t know shit from Shinola!“
Für die amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg gehörte die dunkelbraune Schuhpolitur der amerikanischen Traditionsmarke Shinola zur Standardausstattung. Eine etwas derbe Legende besagt, dass einst ein rebellischer G.I. seinem strengen Kommandanten nicht wie üblich mit der bewährten Paste, sondern mit frisch eingesammeltem Hundekot die SLederschuhe poliert haben soll. Der Vorgesetzte merkte jedoch nichts davon und trug stolz seine glänzenden Stiefel zur Schau. Seitdem kursierte in der US-Armee das geflügelte Wort „You don’t know shit from Shinola“. Zu Deutsch: Du kannst ja nichtmal Schei**e von Shinola unterscheiden! Die Produktion der Schuhpolitur wurde in den 1970er Jahren eingestellt – doch die Redensart lebte fort.
Neuanfang in Detroit
Auch Tom Kartsotis, der 1984 als junger Studienabbrecher die Marke Fossil gegründet und innerhalb von zehn Jahren in ein milliardenschweres Lifestyle-Unternehmen verwandelt hatte, kannte Shinola vor allem aus diesem Zusammenhang. Doch als er den Spruch in einem Gespräch hörte, wurde er stutzig: Könnte man die Geschichte der ur-amerikanischen Marke Shinola nicht fortsetzen? Mit neuen Produkten und eigener Manufaktur in der einst blühenden, heute jedoch vom Abstieg bedrohten Industrie-Metropole Detroit? Schließlich hatte die „Motor City“ einst mit ihren Fabriken und ihrer Arbeitskraft den amerikanischen Fortschritt angetrieben. Mit seiner Firma Bedrock Brands erwarb er 2011 die Namensrechte, bald darauf eröffnete Shinola in einem gewaltigen Backstein-Komplex in Midtown Detroit, der einst General Motors als Forschungslabor gedient hatte und heute auch das College for Creative Studies beherrbergt, seine Produktion.
Schweizer Ausbilder, Lehrlinge aus Detroit
Seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Automobilindustrie war Detroit vor allem wegen Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Kriminalität und Verfall in den Schlagzeilen gewesen. Nun begann Shinola hier, inmitten der Ruinen des Industriezeitalters, neue Mitarbeiter für seine Uhrenproduktion anzuwerben. Kandidaten gab es genug, viele von ihnen waren zuvor in der Automobilindustrie tätig gewesen – nur Uhrmacher suchte man in Detroit vergeblich. Also beauftragte Shinola den Schweizer Uhrmacher Ronda mit der Produktion der Komponenten und Ausbildung der Arbeiter. Heute werden bei Shinola nicht nur die Uhrwerke manuell zusammengesetzt, auch die Zifferblätter werden von Hand bemalt – und die ledernen Armbänder stammen ebenfalls aus der hauseigenen Manufaktur.
Von der Uhrenmanufaktur zur Designfabrik
Als erste Uhr 2013 erschien die Shinola Runwell, eine simple und robuste, in zwei größen erhältliche Armbanduhr. Die 2.500 produzierten, 550 Dollar teuren Exemplare waren innerhalb von zwei Wochen ausverkauft – ein Drittel davon nach Michigan. Mittlerweile hat Shinola fünf Uhrenfamilien im Programm, in diesem Jahr sollen rund 150.000 Uhren produziert werden. Doch damit nicht genug: Tom Kartsotis und sein Team versuchten sich neben den Uhren auch an anderen Produkten. Und immer holten sie einen ausgewiesenen Spezialisten als Partner mit an Bord. Zusammen mit der 1905 in Chicago gegründeten Gerberei Horween Leather und dem Schweizer Familienunternehmen Braloba begann Shinola mit der Fertigung von Lederwaren – zunächst Armbänder für die hauseigenen Uhren, mittlerweile auch Taschen, Geldbörsen, iPad-Hüllen und sogar amerikanische Sportutensilien wie Basketbälle und Footballs.
Fahrräder wie zu Großvaters Zeiten
Auch Fahrräder werden in der 144 West Canfield Street in Detroit zusammengesetzt. Produziert werden die Stahlrahmen und Gabeln vom legendären Farradkonstrukteur Richard Schwinn in Wisconsin. Wie alle anderen Produkte von Shinola haben auch die Zweiräder eine ganz eigene, leicht wieder zu erkennende Ästhetik: Es ist eine Mischung aus Nostalgie, robuster Funktionalität und dem gerade so angesagten „Industrial Look“, der an jene Zeiten erinnert, als in Amerika noch Dinge produzierte, die Qualität versprachen und ein Leben lang hielten. Es ist dieser ur-amerikanische Mythos der ehrlichen, von fleißigen Arbeitern in schweißtreibender Arbeit gefertigten Produkten „Built in Detroit“, denen Shinola seinen umwerfenden Erfolg verdankt. Dass die Marke der sozialschwachen Stadt mittlerweile nicht nur rund 380 Jobs, sondern auch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft geschenkt hat, kommt bei den amerikanischen Kunden natürlich ebenfalls sehr gut an. Allein der ehemalige Präsident Bill Clinton soll 14 Shinola-Uhren besitzen.
Weltweite Erfolge mit "Made in Detroit"
Doch es sind nicht nur Käufer in den USA, die von der typisch-amerikanischen Erfolgsstory begeistert sind. In London hat Shinola erst kürzlich seinen ersten europäischen Flagship Store eröffnet. Und selbst in der Schweiz, dem gelobten Land der Uhrmacherkunst, kann man die Uhren von Shinola erwerben: Der Züricher Herrenausstatter AP&CO hat die Marke seit Kurzem im Programm. Gleichzeitig wächst die Produktion in Detroit weiter: Mittlerweile werden bei Shinola sogar Notizbücher, Seifen und Hundespielzeuge produziert, weitere Produkte sind in Planung. Selbst die legendäre Schuhcrème wurde neu aufgelegt. Ob auch das US-Militär wieder auf die Politur zurückgreift, ist uns leider nicht bekannt.