Man stelle sich vor, am Flughafen Zürich steht ein Auto bereit, das einen zum alljährlichen Cresta-Run ins winterliche St. Moritz geleiten soll. Eine Fahrt in den Schnee also, von Zürich rund 200 Kilometer in die Berge. Rauf auf über 1.800 Meter, geführt von einer mit zahlreichen Haarnadelkurven gespickten Serpentinenstraße, deren Befahrbarkeit im Wesentlichen von der Fähigkeit des Räumdienstes abhängt. Sinnvoll für derartige Strecken ist normalerweise ein Gefährt mit mindestens vier Winterreifen, noch besser ein Range Rover mit Allradantrieb.
Doch irgendetwas muss bei der Bereitstellung des Shuttlewagens am Airport schief gelaufen sein, denn der heckangetriebene Aston Martin V8 Vantage V550 ist alles andere als ein idealer Partner für die alpine Strecke. Der Brite aus dem Baujahr 1996 gehört zu der Sorte faszinierender Sportwagen, die im Sommer in den französischen Seealpen ganze Heerscharen von Dorfbewohnern auf die Straße locken, wenn der bollernde Sound des aufgeladenen V8 von den Bergwänden hallt. Für die winterlichen Schweizer Alpenpässe ist das Auto hingegen: gefährlich! Die Tatsache, dass dieser Rothersay Red farbene Aston einer von nur drei je in diesem Farbton gebauten ist, macht die Sache wirklich nicht besser.
Dann der nächste Schock: Der Aston lenkt rechts. Das ist in Schottland oder London kein wirkliches Problem, in der Schweiz schon. Oder haben Sie Drift-Erfahrungen mit Rechtslenkern? Doch auch Bond-Darsteller Pierce Brosnan hätte sich angesichts des perfekt makellosen Zustandes des nur knapp 50.000 Kilometer gelaufenen Briten nicht beschwert, sondern die Herausforderung angenommen. Schlüsseldreh auf rechts, die 550 Kompressor PS erwachen aus dem kühlen Winterschlaf. Dank präzise zu schaltendem Sechsgang-Getriebe gelingt der erste Teil der Tour über die gut ausgebauten Schweizer Autobahn und Landstraße ohne Probleme, nur die Schneewälle am Rande der Strecke nehmen bedrohliche Ausmaße an.
An Chur und Thusis vorbei schneidet sich das Zwei-Tonnen-Coupé den Weg Richtung Julier Pass. Schneepflug sei Dank, ist dieser zwar offen, doch die Fahrbahn ist Schnee bedeckt, was in Verbindung mit den üppigen 285er Goodyear-Reifen bereits einen unschönen Umstand darstellt. Dieser wird dann zur endgültigen Katastrophe, da die Pneus ein Sommerprofil aufweisen.
Und das Schicksal nimmt schneller seinen Lauf, als der Astonfahrer gegenlenken kann. Fern jeder elektronischer Traktionshilfe schlingert der Brite wie ein führerloser Cresta-Schlitten durch den Eiskanal. Von Traktion kann immer nur dann gesprochen werden, wenn gerade ein Schneefeld für minimalsten Grip sorgt. Dann nimmt der drehmomentstarke Aston zwar Fahrt auf, schwänzelt dabei aber wild mit dem leichten Heck, um vor der nächsten Kurve laut ABS ratternd nur mit Mühe um die Kehre zu driften. Das Ziel vor Augen, erklimmt der Hecktriebler wacker tüchtig jede Kurve, wobei der markante Frontspoiler zunehmend die Rolle des Schneepfluges übernimmt. Jetzt bloß nicht das wuchtige Heck in die letzte Schneewehe setzen, durchfährt es einen, wenn der Aston mal wieder mit seinen Heckleuchten durch das Seitenfenster blinzelt. Da hilft nur Gegenlenken und den nächsten Schwung des Hecks abwarten und parieren. Die unvorteilhafte Achslastverteilung des Aston trägt ihren Teil zu dem Wintervergnügen der besonderen Art bei. Die weitgehend gefühllose Servolenkung und das riesige Volant besorgen den Rest bei diesem Ritt durch das grelle Weiß. An die maximal mögliche Beschleunigung von unter fünf Sekunden auf 100 km/h ist nicht zu denken.
Wer es dennoch schafft, mit dem V8 Vantage unversehrt das Engadin zu erreichen, dem ist nicht nur die Bewunderung des Hotel-Pagen sicher – er dürfte in der Cresta-Runde auch für ewig als Held gefeiert werden. Dennoch raten wir Ihnen: „Don't try this at home!“
Fotos: Tim Wallace (www.ambientlife.co.uk)