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Magazin

Bentley 8-Litre

Realitätssverlust bei W.O. Bentley

Text: Michael Schäfer
Fotos: Michael Schäfer / Bentley

Auch wenn Walter Owen „W.O.“ Bentley ein besserer Konstrukteur als Geschäftsmann war. Auch wenn er lieber an der Box in Le Mans auf die Zieldurchfahrt seiner siegreichen Werkswagen wartete, statt Ordnung in das finanzielle Chaos seines Unternehmens zu bringen – der endgültige Ausschlag zum Niedergang Bentleys formte sich jenseits des Atlantiks.

Am 24. Oktober 1929 kam es an der New Yorker Börse zu heftigen Kurseinbrüchen aufgrund massiver Aktien-Spekulationen. Nein, es ging damals nicht um Immobilien. Dennoch reichte es für die erste Weltwirtschaftskrise in der Geschichte. Durch die bereits damals eng miteinander verflochtenen Finanzmärkte konnte es nicht ausbleiben, dass die Auswirkungen der Krise auch irgendwann Europa erreichten. Im Spätsommer 1930 geschah es dann: Wie ein riesiger Tsunami, der Konkurse, Insolvenzen und Pleiten vor sich hertrug, überrollte die Weltwirtschaftskrise das europäische Festland. Mit der Folge, dass das bislang wohlhabende Bentley-Klientel plötzlich ganz andere Sorgen hatte, als die Qual der Wahl eines neuen Automobils.

Und ausgerechnet in dieser besorgniserregenden Zeit entschied W.O. Bentley, das bislang produzierte Spitzenmodell „Speed Six“ (mit 6,5 Litern Hubraum) durch einen noch mächtigeren Typ abzulösen: Dem „8-litre“. Seiner Meinung nach konnte man nur durch beste Qualität und höchste Zuverlässigkeit das Überleben des Unternehmens sichern. Damit sich alle Mitarbeiter ganz dem Neuling widmen konnten, lies W.O. für die Entwicklung und Produktion des „8-litre“ die Fertigung aller anderen Modelle einstellen, was sich als schwerer Fehler erweisen sollte. Denn bislang hatten sich die kleineren Modelle noch verkauft – zwar nicht mehr wirklich gut, aber sie brachten weiterhin dringend benötigtes Geld in die Kasse, die sich immer schneller leerte.

Für den „8-litre“ entwarf Bentley ein neues und sehr schweres Fahrgestell. Damit hatte der auf acht Liter vergrößerte Sechszylinder des „Speed Six“ allerdings keine große Mühe. Die für die damalige Zeit enormen 225 PS Leistung beschleunigten den Wagen – selbst mit dem massigsten Karosserieaufbau, der für ein Gesamtgewicht von über 2,5 Tonnen sorgte – noch auf bis 160 km/h! Bentley garantierte, dass jeder „8-litre“ die magischen 100 mph erreicht, egal mit welchem Aufbau er versehen wurde. Wie immer fertigte Bentley nur das Chassis und den Motor, die Karosserieaufbauten selbst wurden von den Großen ihrer Branche – wie z.B. Gurney Nutting, Mayfair, Mulliner, Park Ward, Vanden Plas und Barker – übernommen und lagen ganz in der Entscheidung des jeweiligen Kunden. Preislich lag der „8-litre“ dabei sogar noch über seinem härtesten Mitbewerber; dem Rolls-Royce „Phantom II“.

Leichtbau und Hightech

Um es mit dem Gesamtgewicht nicht zu übertreiben, wurde bei vielen technischen Komponenten Aluminium verwendet. Unter der voluminösen Motorhaube des „8-litre“ ging es dabei hochmodern zu: Vier Ventile pro Zylinder, Doppelzündung und Aluminium-Kolben. Er war bis dato der leistungsstärkste und schnellste Bentley aller Zeiten, zusätzlich getragen von einer überragenden Laufkultur. Der beachtliche Radstand von fast vier Metern (was ihn damit zum damals größten in Großbritannien gefertigten Personenwagen machte) und der schwere Rahmen sorgten zudem für ein erstaunlich ausgewogenes Fahrverhalten. Für adäquate Verzögerung sorgten vier servounterstützte Trommelbremsen gewaltigen Ausmaßes.

Das rapide sinkende Eigenkapital Bentleys verhinderte leider die weitere Teilnahme am Rennsport. An die großen Le-Mans-Erfolge der Jahre 1927 bis 1929, mit den 4,5- und 6,5-Liter-Modellen, konnte aus finanziellen Gründen mit dem „8-litre“ nicht mehr angeknüpft werden. Man mag es sich gar nicht vorstellen, welche Erfolge ein in Le Mans eingesetzter „8-litre“ hätte erringen können. Die Fahrer hätten unter den 24 Stunden Dauerbelastung sicherlich mehr gelitten als der Bentley.

Aber es kam noch schlimmer: 1931 erreichte die Weltwirtschaftkrise ihren Höhepunkt: In Großbritannien sorgten in Angst um ihr Guthaben geratene Bankkunden für ein Chaos, weil jeder sein Geld sicherer im Sparstrumpf sah als in der Bank. Bis kurz vor die Zahlungsunfähigkeit gedrängt, reagierten viele Kreditinstitute mit Kopfschütteln, wenn es um die Aufnahme oder die Verlängerung eines Darlehens ging. Sie benötigten selbst dringend Geld und kündigten Kredite. Schließlich griff König George V. ein und formierte eine Allparteien-Regierung, die empfindliche Einschnitte in das soziale Netz (Kürzung des Arbeitslosengeldes) ankündigte, was zu Streiks und Demonstrationen bei der Bevölkerung führte.

England befand sich nun endgültig in der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Ersten Weltkrieges, und W.O. musste jeden Tag damit rechnen, dass ein behördlicher Konkursverwalter vor der Tür stehen würde, um die Zahlungsunfähigkeit von Bentley Motors in Cricklewood offiziell zu bestätigen und ein Liquidationsverfahren in Gang zu setzen.

Das Ende von Bentley Motors

W.O. musste sich mittlerweile eingestehen, dass er sich mit dem „8-litre“ gründlich verspekuliert hatte. Zudem drohte der Hauptanteilseigner, der Millionär Woolf Barnato, Bentley damit, seine Unterstützung zu entziehen, wenn das Unternehmen weiterhin solch exorbitante Verluste schreiben würde. Um ein preiswerteres Modell unterhalb des einbrechenden Marktes für Luxusfahrzeuge anbieten zu können, fabrizierte Bentley in schierer Verzweiflung einen 4-Liter-Motor, für den aber nur noch ein einziges Chassis zu Verfügung stand: Das des „8-litre“. Viel zu schwer für den Vierzylinder und weit davon entfernt, was man von einem Bentley in Sachen Fahrleistungen erwartete, entpuppte sich der „4-litre“ zu einem fast schon absehbaren Desaster. Wenn die kostspielige Entwicklung des „8-litre“ den Untergang des Unternehmens einleitete, so brach der „4-litre“ ihm letztlich das Genick.

Bentley strebte mit einer überzähligen und großzügig entlohnten Belegschaft eine zu hohe Qualität an. Abstriche wollte er aus Loyalität seinen Mitarbeitern gegenüber aber auch keine machen, während gleichzeitig die Verkäufe stark zurückgingen. Und so kam es, wie es kommen musste: Am 10. Juli 1931 wurde die Insolvenz erklärt. Anschließend entbrannte ein heftiges Bietergefecht interessierter Firmen, das ein unerwartetes Ende nahm: Durch ein raffiniertes Spiel mit Strohmännern erwarb Rolls-Royce seinen früheren Erzrivalen Bentley und zog ihn damit aus dem Verkehr. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.

Der beste Bentley aller Zeiten

Laut Kennern, Enthusiasten und der Fachpresse war der „8-litre“ der beste „Cricklewood“-Bentley aller Zeiten. Trotz der widrigen Umstände seiner Entstehung und Vermarktung verkaufte er sich stolze 100 Mal. Offenbar hatte man damals, wie in den nachfolgenden Jahrzehnten, den Wert dieses besonderen Fahrzeugs erkannt, denn fast alle gefertigten „8-litre“ existieren noch immer. Sie dienen als imposantes Beispiel, wie ein fast schon besessener Konstrukteur an seinen eigenen Zielen und Maßstäben scheiterte, dabei aber etwas Einzigartiges schuf: den Bentley „8-litre“ – der beste Bentley aller Zeiten und gleichzeitig Sargnagel des Unternehmens.