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Rolls-Royce Ghost: Ghostdriver

Harte Zeiten für James, Mortimer & Co. Ab sofort fahren Lady oder Sir nämlich ihren Rolls-Royce am liebsten selbst – und zwar den Ghost. Der 5,40 Meter lange, dennoch agile Wagen ist quasi die „Kleinausgabe“ der Chauffeur-Limousine par excellence, bekannt als Rolls-Royce Phantom. Damit aber allemal noch erwachsen genug, um Fahrern von AMG S-Klasse und Bentley Flying Spur spontane Blässe ins Gesicht zu treiben. Geisterjagd, anders herum. Hier ist der Ghost der Jäger. Mit einem neuen 570 PS starken 6,6 Liter „V12-Waftability-Antrieb“. Let's go, Ghost Hunting!

Auf eine echte Lady wartet (Gentle)man doch gerne! Besagte Lady, die „Spirit of Ecstasy“, hat zur Präsentation des neuen Rolls-Royce Ghost nach Kalifornien gebeten. Auf dessen poliertem, fliehendem Kühlergrill hat sie ihren gewohnten Platz eingenommen. In eleganter Haltung neigt sie sich nach vorne, um die anstehende Fahrt anzutreten. Und zu genießen. Denn zwischen L.A. und San Francisco vermutet sie eine zahlungskräftige und zahlungswillige Klientel.

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Doch gemach. Auch wir haben Zeit. Und rekapitulieren zunächst in Chronistenpflicht. Der Ghost gab vor rund einem Jahr, im März 2009, als bereits eng an der Serie angelehntes Konzeptfahrzeug 200EX seinen Einstand in Genf. Bereits im Sommer 2008 machten erste Skizzen des intern als „RR4“ bezeichneten Projektes klar, dass ein vierter Rolls-Royce die Modellpalette der Marke mit Stammsitz im südenglischen Goodwood ergänzen würde. Die Publikumspremiere feierte der Ghost auf der IAA in Frankfurt im September 2009. Und bereits im Dezember letzten Jahres fanden laut RR die ersten 150 Fahrzeuge ihren Stammplatz in Kundengaragen.

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Nun steht er vor uns, der Ghost. In dunklem Burgund. Claret heißt der Farbton. Er erinnert wohl nicht von ungefähr an einen gut gereiften Rothschild. „Klein“ – nun ja, dieser Ausdruck ist nicht wirklich präzise, eher relativ. Nur gegenüber einem Phantom wirkt der Ghost, wohlgemerkt, kleiner. Die übrige automobile Luxusklasse hingegen reicht an 5,4 Meter Länge, 1,95 Meter Breite und 1,5 Meter Höhe nicht heran. Lediglich der neue Bentley Mulsanne kann in punkto Statur mit dem Ghost mithalten. Diese „Class Distinction“ liegt auch an dem Habitus des Ghost, der auffallend den Yachting-Style der Marke verfolgt: hoher Vorderbau, langer Bug, steile A-Säule, durchgehende Flächen, feine horizontale Linien. Die Fahrerkabine erscheint nach hinten verschoben. Das Heck läuft konisch zu. Der lange Radstand von 3,3 Meter mit der weit in der Front liegenden Vorderachse pointiert die gestreckte Silhouette. „Klarheit ist das schwierigste Designprinzip überhaupt“, resümiert Rolls-Royce Chefdesigner Ian Cameran.

Obwohl die Front klassische Rolls-Royce Gesichtszüge trägt, wirkt sie doch modern. Der Grill erscheint nicht mehr wie ein griechischer Tempel. Tagfahr- und Xenonlicht unterstreichen gleichwohl scharfe Konturen. Zwölf Grundfarben stehen zur Wahl, treffen im Interieur auf acht Lederfarben und fünf unterschiedliche Furniere. Mit dem Individualisierungs-Programm „Bespoke“ multiplizieren sich die Kombinationsmöglichkeiten ins nahezu Unendliche. Unser Tipp: Kaufinteressenten sollten ihre Wahl wenigstens einmal überschlafen. Denn Fehlgriffe schmerzen. Nicht nur finanziell. Extravagant: Motorhaube, Kühlergrill und Frontscheibenrahmen des Ghost sind optional in kontrastierendem Silver Satin erhältlich. Der matte Glanz wird durch einen Decklack auf der Silbersatin-Schicht erreicht.

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Auch der Innenraum zeigt erwartungsgemäß die Kombination aus markentypischer Tradition und Moderne. Milchglasleuchten, ein mit Stoff bespannter Innenhimmel und Chromtürgriffe fallen auf – ebenso wie die in ihrer Funktionalität unübertroffenen Kippschalter, „Eyeball“-Luftauslässe und Registerzüge in handwerklicher Machart von Orgelbauern. Deren Bedienung fühlt sich so an, als ob man einen Hydraulikkolben bewegt – satt, solide und nahezu lautlos. Spürbar kein Vergleich mit dem spröden Klacken plastiliner Bedienelemente. Die Schalteinheit für die Beleuchtung links neben dem Lenkrad scheint direkt von dem klassischen Rolls-Royce Silver Shadow zu stammen. Manche Dinge lassen sich schwerlich besser machen. Das gilt auch für das Volant, dessen Griffkranz nur halb so stark moduliert ist, wie es heute gemeinhin angesagt ist. „Mode“ war noch nie das Leitmotiv von Rolls-Royce.

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Ebenfalls nicht modisch: Die Türen öffnen wie beim großen Phantom gegenläufig. Zugegeben, eine spleenig britische Attitüde. Aber praktisch. Die Coach-Doors zum Wagenfont sind hinten angeschlagen und öffnen sich dabei mit einem komfortablen Winkel von bis zu 83 Grad. Mittels Tasten in den C-Säulen schließen die Türen auf Wunsch automatisch. Mitglieder der britischen Chauffeurs-Guild könnten diese Tätigkeit kaum eleganter verrichten. Eine empfehlenswerte Investition ist das optionale Panorama-Sonnendach. Getreu dem Ghost-Motto „die Kraft des Einfachen“ ist sonniges Tageslicht, welches in den akustisch abgeschottenen Ruheraum fällt, die luxuriöse Verbindung zur Außenwelt. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, das eine Vierzonen-Klimaanlage für die gewünschte Temperierung sorgt und optionale multimediale Picknicktische gleichzeitig Ablageflächen und Unterhaltungsprogramm bieten.

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Bemerkenswert: Trotz einer rund 40 Zentimeter geringeren Länge als der Phantom, weist der Ghost ähnliche Platzverhältnisse im Innenraum auf. Die hinteren Sitze sind entweder als Lounge-Sitzbank mit Lüftung und Massage oder als ausgeformte Einzelsitze erhältlich. Entscheidungssachen. Alan Sheppard, Interieur-Designer resümiert die Tugenden des neuen Royce so: „Mit dem Ghost können Sie jederzeit dem Alltag entfliehen.“ Wirklich? Man muss bei Leerlaufdrehzahl tatsächlich über feine Hörsinne verfügen, um zu registrieren, ob der Motor bereits läuft oder nicht. Ein Grund ist die doppelte Motorschottwand, ein weiterer die Kultiviertheit des Aggregats. Und wer das 10-Kanal-Audiosystem mit bis zu 600 Watt Leistung aus 16 Lautsprechern, einschließlich zweier im Wagenboden verbauten Subwoofern zum Konzert bittet, bekommt vom Motorlauf sowieso nichts mehr mit. Auch überaus kritisch eingestellte Passagiere dürften anerkennen: Fahren heißt im Ghost gleiten. Die Assoziation des schwebenden Luftkissens ist nicht übertrieben. In Kennerkreisen spricht man hier bevorzugt vom „Magic Carpet Ride“. Der fliegende Teppich ist beim Ghost indes elektromechanischer Natur: Doppelte Dreieckslenker vorn und eine Multi-Link-Hinterachse arbeiten mit einer intelligenten Luftfederung für alle vier Räder und elektronisch gesteuerten, variablen Dämpfern zusammen. Selbst die überstrapazierten und täglich malträtierten Highways rund um Los Angeles und Schlagloch gesäumte Küstenstraßen der Crystal Cove können dieses System nicht aus der Fassung bringen. Schläge machen sich meist nur akustisch bemerkbar.

Die Souveränität gewinnt der Ghost vor allem dank seines Antriebs. Hier stand der neue BMW 760 Pate. Dessen 6,6 Liter Motor wurde für den Ghost weiterentwickelt. Der Twinturbo-V12 mit Direkteinspritzung leistet nun 570 PS. Natürlich: das spürt man. Kraft ist ein scheinbar ewiger Fluss, der über eine wunderbar abgestimmte Achtstufenautomatik in strömende Bahnen gelenkt wird. Das maximale Drehmoment von 780 Nm liegt bereits bei 1.500 Touren an. Die Abwesenheit der sonst üblichen Sporttaste mag zunächst irritieren. Ganganzeige, Drehzahlmesser? Ebenfalls Fehlanzeige. Auch eine manuelle Schaltfunktion sieht die mechanische Instrumentierung nicht vor. Der Ghost fährt entweder vorwärts oder rückwärts. So einfach ist das. Und damit sicher nicht erste Wahl für sportlich ambitionierte Fahrer. Doch einfach genial, wenn man sich auf das Fahren per se einlassen, das Wiegen der lackierten Tachonadel verfolgen oder darüber staunen möchte, dass die Power-Reserve-Anzeige meist Werte von über 80 Prozent verbleibender Restkraft anzeigt. Selbst bei zügiger Fahrt ist damit klar: Hier geht noch erheblich mehr. Im Schnitt soll der Rolls-Royce Ghost jedoch mit 13,6 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer auskommen. Nota bene: im Schnitt!

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In einem unbeobachteten Moment nehme ich mir die Lausbuben-Freiheit heraus und presse das Gaspedal fest in den mit Rautenleder versehenen Schafswollteppich. Prompt kommt Leben in die Runduhren. Der Bug bäumt sich. Das Triebwerk dreht hoch. Rauscht wie eine Jet-Turbine. Und der Ghost sucht das Weite. In nur 4,9 Sekunden erreicht der zweieinhalb Tonnen schwere Wagen laut Herstellerangabe 100 km/h. Und fliegt stoisch weiter. 250 km/h begrenzte Höchstgeschwindigkeit fühlen sich wie ein seltsam entrückter und akustisch abgeschirmter Tiefflug an. Nur an den Momentanverbrauch sollte ich jetzt besser nicht denken. Dafür an das Sicherheitskonzept. Denn trotz des traditionellen Fahrerlebnisses verzichtet der Ghost nicht auf moderne Assistenz- und Sicherheitssysteme: Rollstabilisierung, dynamische Bremssteuerung und Stabilitätskontrolle, einschließlich Traktions- und Kurvenkontrolle, Head-up Display, Night-Vision, Spurassistent, 360-Grad Weitwinkel-Kamerasystem und Fernlichtassistent nehmen die Aufgaben ab, die James und Mortimer auch nach gedrilltem Fahrtraining in dieser konzertierten Perfektion kaum abrufen können.

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Dennoch gibt es zum Schluss auch noch eine gute Nachricht für die Gilde der Chauffeure. Der Ghost ist nämlich weniger für diejenigen gedacht, die vom Phantom abrücken wollen. Vielmehr positioniert Rolls-Royce den Geist aus Goodwood als eine Limousine für selbst fahrende Aufsteiger, die statt Bentley Flying Spur, Mercedes-AMG S-Klasse, Jaguar XJR oder Maserati Quattroporte lieber die distinguiert britische Wahl der Fortbewegung in Begleitung der silbernen Lady in Betracht ziehen. Meine Damen, meine Herren, kommen wir zum Preis. 250.000 Euro sind absolut gesehen viel Geld, relativ indes beinahe wenig, wenn man bedenkt, dass ein Phantom nach Wahl gut das Doppelte kostet. So gesehen darf man mit einer Prise britischen Humors feststellen: „Less is more!“ – für Selbstfahrer in diesem Falle tatsächlich mehr Rolls-Royce!

Text: Mathias Paulokat
Fotos: Mathias Paulokat / BMW


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