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Auf Entdeckungstour in Mailand mit Design-Vordenker Michele Lupi

Als Markenvisionär des italienischen Schuhfabrikanten Tod’s ist Michele Lupi ein Grenzgänger zwischen Mode, Design und Popkultur. Nun lud er uns zu einer Entdeckungsfahrt an Bord seines wunderbaren Mercedes-Benz 280 TE durch seine Heimatstadt Mailand ein.

Als im März diesen Jahres beim Winter-Concours “The Ice” die millionenschweren Sammlerautos über den zugefrorenen See von Sankt Moritz rutschten, fiel uns ein Teilnehmer besonders ins Auge: Der bescheidene, aber kreativ individualisierte Mercedes-Benz W123 Kombi mischte sich mit seinem eleganten dunkelblauen Lack und den gelben Nebenscheinwerfern ganz selbstverständlich zwischen die Sportwagen-Ikonen von Ferrari, Lamborghini und Lancia. Auch auf unserem Instagram-Kanal sorgte das T-Modell für eine kleine Sensation. 

Der Besitzer, so stellte sich heraus, war Michele Lupi – ein vielfältig taltentierter Journalist aus Mailand, der die italienischen Ausgaben der Magazine Rolling Stone, GQ und Icon gegründet hatte und kürzlich zum ersten “Men’s Collections Visionary” der Modemarke Tod’s berufen worden war. Als wir Michele einige Wochen später erneut während der Mailänder Designwoche trafen, wo er für Tod’s eine inspirierende Pop-Up-Ausstellung kuratiert hatte, schlug er vor, uns beim nächsten Besuch seine liebsten Orte der Stadt zu zeigen. Natürlich sagten wir zu.  

Die Parkgarage, in der Michele seine Autos abstellt und an dem wir uns an diesem Morgen verabredet haben, ist einer der typischen historischen Mailänder Orte, die man niemals entdecken würde – wenn man nicht genau wüsste, wo man suchen soll. Das zweistöckige modernistische Gebäude der Autorimessa Cesena wurde in den 1950er Jahren auf jenem Fussballfeld erbaut, auf dem damals die Spieler von Inter Milan trainierten. In dritter Generation vom Enkel des einstigen Erbauers betrieben, ist das Parkhaus mit seiner großen Fensterfront, der blätternden grünen Farbe und der tropischen Vegetation eine wahre Zeitkapsel, die einen den Aufbruchsgeist spüren lässt, der in den Nachkriegsjahren durch Mailand wehte. Gerade als wir den unglaublich gut erhaltenen Alfa Romeo 1750 Berlina des Garagisten bewundern, ertönt die wohlbekannte Hupe eines klassischen Mercedes. Michele ist da – und als Schnelldenker und noch rasanterer Geschichtenerzähler verwickelt er uns sofort ins Gespräch.    

Du bist in den 1960er Jahren im Herzen von Mailand aufgewachsen – erzähl uns doch ein wenig von deiner Familie und der Stadt damals. 

Ich wurde 1965 in Mailand geboren. Und während die meisten bürgerlichen Familien damals aus der Stadt herauszogen, blieben wir mitten im Zentrum wohnen. Die Gegend war heruntergekommen und etwas gefährlich, aber auch faszinierend. Meine Familie selbst war ebenso unkonventionell. Mein Vater war Architekt und Grafikdesigner, er arbeitete mit Achille Castiglioni und entwarf die Logos für Fiorucci, Miu Miu und die Fahrradmarke Cinelli. Er war auch als Art Direktor für die Ästhetik der Magazine Domus und Abitare verantwortlich. Meine Eltern hatten beide ein Herz für die angelsächsische Kultur und wir besaßen ein Haus im Londoner Stadtteil Kew Gardens, wo wir viel Zeit verbrachten. Als Kind war ich ständig von Kunst, Grafikdesign, Architektur und internationalem Stil umgeben – ich atmete es geradezu ein. 

Woher kommt deine Faszination für Autos?

Niemand in meiner Familie brachte Autos besondere Leidenschaft entgegen. Doch eines Weihnachtens ging meine Mutter zum nächsten Triumph-Händler, kaufte einen weißen Spitfire mit crèmefarbenem Verdeck, gab den Renault 4 meines Vaters in Zahlung – und schenke ihn meinem Vater als Überraschung zum Fest. Er war völlig verzweifelt. Natürlich hatte er seinen Renault geliebt, es war doch ein echtes Architektenauto. Dennoch durfte der Triumph bleiben und wir fuhren damit durch ganz Europa. Ich wurde irgendwo hinter die Sitze gequetscht. Wahrscheinlich erwachte damals mein Interesse an Autos. Bis heute halte ich Autos für faszinierende Objekte – eigentlich sind es ja kleine Häuser, die man beheizen und mit denen man durch die Gegend fahren kann. Durch die Windschutzscheibe sieht man wie auf einer Kinoleinwand ständig etwas Neues. Irgendwann begann ich ein Studium der Architektur, doch die Autos ließen mich nicht los. Viel lieber wollte ich über Rennwagen schreiben. 

Wieso Rennwagen?

Als ich elf Jahre alt war, wurde ich auf eine polnische Privatschule in South Kensington geschickt, um dort mein Englisch aufzupolieren. Einer der Jungen in meiner Klasse war Giuseppe Cipriani, dessen Vater die berühmte Harry’s Bar in Venedig gehörte. Später wurde er ein professioneller Rennfahrer, er besaß sogar ein eigenes Rennteam in der Formel 3000. Doch auch damals begeisterte er sich schon für den Motorsport. Eines Tages fragte er mich, ob ich ihn zum Großen Preis von England nach Brands Hatch begleiten wollte. Das Rennen war ein wildes Duell zwischen James Hunt und Niki Lauda, die Menge tobte – und ich verfiel der Fomel 1 mit Haut und Haar. Noch am Abend klangen mir die Cosworth- und Ferrari-Motoren in den Ohren. Beim nächsten Rennen am Nürburgring hatte Niki Lauda seinen tragischen Unfall.   

Gibt es ein Rennen, das dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Im selben Jahr übernachtete ich bei einem Schulfreund. Ich hatte mir einen Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt, um den Großen Preis von Japan anzusehen. Ich erinnere mich noch genau: Alle anderen Menschen im Haus schliefen noch, es war ganz still und eisig kalt, doch ich konnte meine Augen einfach nicht vom Bildschirm des Schwarzweiß-Fernsehers lösen. Das Rennen wurde wegen des immensen Regens immer wieder verschoben, doch irgendwann ging es doch los. Niki Lauda entschied sich gegen den Start – und James Hunt gewann die Weltmeisterschaft mit nur einem Punkt Vorsprung. Viele Jahre später erzählte mir Mauro Forghieri, der damalige Renningenieur von Ferrari, wie er die Rennstrecke von Fuji an diesem Tag zusammen mit Niki Lauda in einem Rolls-Royce verlassen habe, als das Rennen noch lief. Der Beifahrer übersetzte die Liveübertragung aus dem japanischen Radio – als Lauda vom Sieg seines Rivalen erfuhr, waren sie schon fast am Flughafen. 

Wie kamst Du schließlich zum Autojournalismus?

Mein Vater hatte mir einmal zu Weihnachten ein selbst entworfenes Set mit Briefköpfen und Visitenkarten geschenkt – ein Motiv war inspiriert von den Londoner U-Bahn-Tickets. Als ich mich entschied, mein Architekturstudium aufzugeben und mich als Journalist zu bewerben, schrieb ich an alle wichtigen Verlage – doch niemand schrieb zurück. Eines Tages rief jemand von Rizzoli an und sage, sie seien nicht an meinen Schreibkünsten interessiert, aber wer habe bitteschön mein Briefpapier gestaltet? Wir trafen uns schließlich auf einen Drink, verstanden uns gut – und ich fing an, Testwagen zu Fotoproduktionen in ganz Italien zu überführen und kleine Texte zu schreiben. Später wechselte ich dann immer wieder die Ressorts, eine Zeit lebte ich als Reisekorrespondent in New York, später gründete ich dann die italienischen Ausgaben von Rolling Stone, GQ und Icon. Doch meine Leidenschaft für Rennsport und Autos blieb.

Wir verlassen die Garage und fahren in Richtung von Micheles Stammwerkstatt. So sitzen wir bequem gefedert auf den Ledersitzen des alten Mercedes, lassen uns durch den Mailänder Vormittagsverkehr in Richtung der Industrieviertel von Lambrate chauffieren. Ein guter Zeitpunkt also, um etwas mehr über das Auto zu erfahren.   

Was ist das Besondere an deinem Mercedes?

Nun, es ist ein Mercedes-Benz 280 TE aus dem Jahr 1982. Ich interessiere mich nicht allzu sehr für die Seltenheit oder den Wert eines Autos, für mich sind das Design und die visuellen Details viel wichtiger. Vor allem für Kombis und Shooting Brakes habe ich eine Schwäche. Ich besaß vorher einen Mercedes 300 Diesel in sehr gutem Zustand, aber er hatte keine Klimaanlage und im Sommer wurde es unerträglich heiß. Also wechselte ich zu diesem Exemplar. Das burgunderfarbene Leder stammt von German Auto Tops, einem Mercedes-Spezialisten in Los Angeles. Ich habe es mir schicken und hier die Sitze damit beziehen lassen. Ich habe auch das Originallenkrad gegen ein Volant von Nardi ausgewechselt. Im Italien der 1980er Jahre hatten alle T-Modelle ein Nardi-Lenkrad. Mir gefällt es so einfach besser. Ich habe auch die gelben Nebelscheinwerfer installiert und den Norton-Sticker aufs Heck geklebt. Ich liebe alte Rennsport-Aufkleber und T-Shirts aus den 1950er und 1960er Jahren. Wahrscheinlich habe ich diese Leidenschaft für alte Logos und nostalgisches Grafikdesign von meinem Vater geerbt. 

Was fasziniert dich so an Kombis? 

Im Sommer 1982 verbrachte ich mit zwei Freunden einige Zeit in London. Eines Abends mussten wir uns entscheiden, ob wir das Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Italien und Deutschland in einem Pub oder lieber The Clash live in Brixton ansehen wollten. Letztendlich ging ich allein zum Konzert und lungerte vor dem Backstage-Eingang herum, bis die Band eintraf. Plötzlich rollte ein knallroter Ford Granada Kombi heran und die vier Mitglieder von The Clash stiegen heraus. Später am Abend holte Italien den Titel – doch ich hatte die richtige Wahl getroffen. Irgendetwas an Kombis aus den 1980er Jahren erinnert mich seitdem an The Clash und diese Nacht.

Nachdem uns Michele durch ein Labyrinth aus rot getünchten Warenhäusern und Großmärkten navigiert hatte, deuteten wir die zahlreichen klassischen Mercedes in unterschiedlichen Stadien der Dekonstruktion als Zeichen, dass wir uns unserem Zielort näherten. Die Werkstatt von Ricky Motors wird von Enrico Pighetti, dem einstigen Chefmechaniker von Mercedes-Benz Mailand geführt – und gilt laut Michele als erste Adresse für leidenschaftliche Sammler alter Mercedes-Modelle aus den 1980er und 1990er Jahren aus ganz Norditalien. Pighetti arbeitet jedoch nicht nur an Klassikern mit Stern, er ist ein echter 360-Grad-Mechaniker. “Mir ist es egal, was ein Auto wert ist und es macht keinen Unterschied, ob ich einen Fiat 850, einen Ferrari 250 GTO oder einen Suzuki Ignis repariere”, erklärt er. “Was mich interessiert und mich glücklich macht, ist das Arbeiten an Motoren und das Lösen von Problemen.” Doch Enrico ist kein Mann großer Worte, also lassen wir unseren Tour Guide weiter berichten.

Michele, wie lange bringst du deine Autos schon zu Ricky Motors? 

Kennengelernt habe ich Enrico vor etwa neun Jahren. Ich besaß damals einen Porsche 993 Carrera 4 mit unglaublich vielen Kilometern, den ich jeden Tag fuhr. Ich brachte ihn regelmäßig zu Porsche in die Werkstatt und ließ dort ein Vermögen. Als ich Ricky Motors auf eine Empfehlung hin zum ersten Mal besuchte, traf ich meine beiden Mechaniker aus dem offiziellen Porsche-Zentrum – sie hatten ein mechanisches Problem, das sie nicht lösen konnten, und baten Enrico um Rat. Ich stellte mich vor und wurde sehr herzlich Willkommen geheißen. Was mich an Enrico am meisten überraschte, war seine Neugier – gar nicht mal für Autos, sondern für Menschen. Er ist eine authentische Person, man merkt ihm seine guten Absichten und seine reine Seele sofort an. Ich hatte den Mechaniker gefunden, den ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte – und einen Freund noch dazu.

Wir verabschieden uns von Enrico, der sofort wieder in den Tiefen eines Motorraums verschwindet, und lassen uns von Michele zum Mittagessen fahren. Im unscheinbaren, aber exzellenten Fischrestaurant “I Sapori del Mare” in der Via Goldoni kommen wir bei exzellentem “Branzino” und Weißwein endlich dazu, über den neuen Job bei Tod’s zu sprechen – und das Geheimnis von Mailands Eleganz.

Was macht eigentlich ein “Men’s Collections Visionary”? 

Die Idee für diese Rolle hatte Diego Della Valle, der Modeunternehmer und Besitzer von Tod’s, der mich eingestellt hat. Er sagte: “Lass uns etwas romantisches auf deine Visitenkarte schreiben!” Und natürlich konnte ich nicht widerstehen. Er hat diesen unstillbaren Hunger nach neuen Ideen und Dingen und hält damit den Geist der Marke am Leben. Für die Ausstellung von Tod’s No_Code beim Salone del Mobile in diesem Frühjahr haben wir von Andrea Caputo eine Reihe temporärer Wohnstrukturen bauen lassen und Interviews mit unkonventionellen Unternehmern, Designern und Kreativen geführt – darunter übrigens auch Marcello Gandini, Chris Bangle und Mai Ikuzawa, die man in der Autowelt ja gut kennt. Für Tod’s war es ziemlich experimentell, aber die Ausstellung wurde von den Besuchern und der Presse gefeiert. Nachdem ich mein ganzes Leben lang als Journalist gearbeitet habe, ist es etwas völlig Neues für mich.

Mailand ist heute der kreative Hotspot Europas. Wie hat sich die Stadt seit deiner Jugend verändert und was ist das Geheimnis von Mailands Erfolg?

Mailand war ja schon immer eines der großen kulturellen Zentren Europas. In jüngerer Zeit hat sicherlich die Expo eine wichtige Rolle in der Wiederbelebung der Stadt gespielt, aber auch die neuen Hochhausviertel an der Porta Nuova und die Fondazione Prada haben Mailand viel neue Energie verliehen. Zudem kommt dieses gewisse Feingefühl für Stil, das typisch für Mailand ist. Eigentlich ist es eine seltsame Metropole – alles ist grau, nicht übermäßig groß und sicherlich nicht so schön wie Rom, Florenz oder Venedig. Und doch hat Mailand diese stille Eleganz. Auch die Architektur der 1950er und 1960er Jahre ist hier sehr präsent. Während des Salone del Mobile kommen jedes Frühjahr unzählige Architekten, Designer, Journalisten und Studenten hierher und die Stadt explodiert förmlich vor lauter Kreativität. Gleichzeitig ist Mailand eine Stadt, die ihre Geheimnisse wahrt. Meistens sieht man nur vorgeschobene Ebenen und Fassaden. Doch wenn man weiter forscht, stößt man oft unglaubliche Welten, von denen niemand etwas ahnt – so wie dieses Restaurant, meine Garage oder die Werkstatt von Enrico. Es gibt hier wirklich immer und überall etwas Neues zu entdecken. 

Fotos: Andrea Klainguti für Classic Driver © 2019