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Magazin

Dieser infernale Lancia S4 wird Ihnen den Schlaf rauben

Den flammenspuckenden Plastikboliden der Gruppe B aus den Achtzigern haftet ein Ruf wie Donnerhall an. Doch sind sie wirklich so wild, wie wir es uns immer ausgemalt haben? Um das herauszufinden, starteten wir mit einem sehr seltenen Lancia Delta S4 Stradale zu einer Nachtfahrt ins tiefste Surrey.

In der pechschwarzen Dunkelheit dieses frischen Novemberabends wissen die guten Leute von Surrey nicht so richtig, was sie mit diesem Lancia Delta S4 Stradale, mit dem wir gerade durch ihre Gegend zischen, anfangen sollen. Es ist für sie weitaus wichtiger, nach Hause zu kommen, als sich einen Moment Zeit zu nehmen, um dieses sonderbare automobile Einhorn in freier Wildbahn unter die Lupe zu nehmen. 

In einer Ära, in der der Rallyesport mit seinen Gruppe B-Monstern für kurze Zeit der Formel 1 den Rang der populärsten Motorsportdisziplin abspenstig machte, waren straßenzugelassene Homologationsmodelle wie dieses für die beteiligten Werke extrem wichtig. Für Lancia setzte der allradgetriebene Delta S4 Stradale dank einer Fülle an revolutionärer Technik neue Standards für straßentaugliche Sportwagen. Um es klar zu sagen: Dagegen sahen konventionelle Supersportwagen von Ferrari oder Lamborghini fast schon antiquiert aus. Um den lupenreinen Delta S4 für die Rallye-WM zu homologieren, musste Lancia eigentlich laut Reglement 200 dieser „Homologation Specials“ auf Kiel legen. Doch wir wissen, dass es dazu nicht kam. Denn in Wirklichkeit verließen laut Insidern nicht mehr als 70 Exemplare das Werk. Was wiederum die Frage aufwirft, wie viele Grappa wohl die FIA Offiziellen intus hatten, als sie am Tag der Wahrheit zur Abnahme nach Turin reisten.

Mit seinem als Mittelmotor installierten 1,7-Liter-Agregat – angeheizt von einem Turbolader UND einem Kompressor – sowie einem Stahl-Aluminium-Gitterrohrrahmen und einem Allradantrieb mit drei Differentialen war der Lancia S4 ein Hochtechnologieträger wie kaum ein andereS Automobil. Im maximalen Attacke-Modus jagte er selbst den tapfersten Piloten einen kalten Schauer über den Rücken. Immerhin verbrannten in einem solchen Auto Henri Toivonen und Sergio Cresto – das schwirrt in unserem Hinterkopf, als wir uns zum ersten Mal hinter das Lenkrad des roten Biests setzen. Während der RAC Rallye von 1985 – also gleich beim ersten WM-Einsatz – demütigten Toivonen und Markku Alén nicht nur die gesamte Konkurrenz. Alén umrundete zugleich während einer Sonderprüfung den Kurs von Brands Hatch in einer Zeit, die ihm einen Platz im Mittelfeld des Formel-1-Grand-Prix jenes Jahres gesichert hätte!

Ob es am Preis von über 100 Millionen Lire lag, dass der Delta S4 Stradale nicht mehr Käufer fand und so die 200er-Serie nicht zustande kam, ist ungeklärt. Aber es war schon verdammt viel Geld – dafür hätte man auch fünf bestens ausgestattete Delta HF bekommen. Der erste Eindruck beim Einstieg in den S4 Stradale ist positiv. Im Gegensatz zum klobigen und verbauten Exterieur wirkt das Interieur wohltuend aufgeräumt. Hier sahen die Ingenieure wohl die Chance, den S4 ein wenig zu verfeinern und ihn so alltagstauglicher zu machen. Die Alcantara-Sitze sind ein Gedicht, die Sitzposition ist nicht annähernd so komödiantisch wie in den meisten Italo-Sportwagen aus jener Epoche. Mit Klimaanlage, Servolenkung, einem kleineren Turbo und einer intelligenten ECU fährt sich der S4 bei niedrigen Drehzahlen fast so undramatisch wie ein VW Golf. Doch das alles ändert sich, sobald man dem Biest näher auf den Zahn fühlt. Dann kommt seine Ungeduld zum Vorschein, der Delta springt von einer Kurve in die nächste wie eine verbrühte Katze. Und wenn man die leicht irritierenden Vibrationen kurz vor Erreichen der roten Linie ignoriert, wird man mit einem zusätzlichen Bums belohnt, der das Auto regelrecht zum Fliegen bringt. Die Lenkung ist trotz Unterstützung fantastisch, speziell in schnellen Kurven, die Pedale sind perfekt für Spitze-Hacke-Manöver positioniert. Nimm eine Kurve richtig schnell, und das breite Grinsen geht nicht mehr aus Deinem Gesicht.

In der Realität ist der Lancia S4 Stradale nicht das einschüchternde und exzessive Monster, das es von außen vorgibt zu sein – erst recht nicht in der das Auto einhüllenden Dunkelheit. Vielmehr handelt es sich um einen sehr harmonisch abgestimmten Sportwagen, in dem man die unter der Haut arbeitende Technik fast körperlich spürt. Okay, seine Karosserie ist aus Harz und nach konventionellen Maßstäben nicht gerade schön. Und er ist so praktisch, wie es ein Rallyewagen eben sein kann. Doch trotz aller Eigenheiten verkörpert er alles, was so großartig an Lancia war. Da verwundert nicht, dass sich Eugenio Amos für seinen Delta Futurista sehr stark vom S4 Stradale inspirieren ließ. Wie heißt es bei ihm so schön? Make Lancia Great Again!

Fotos: Alex Lawrence für Classic Driver © 2018

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