Es gilt als Sportpalast unter den automobilen Herrenhäusern, das neue Rolls-Royce Phantom Coupé: Statt Chauffeur greift hier der „Master“ höchstselbst ins Steuer und tritt mit handgerahmten Lederstiefeletten aus der James Street das Gaspedal durch. Soweit die Theorie. Ob das neueste und dynamischste Mitglied der Phantom-Familie sein solventes Klientel in Zeiten von NetJets und HON-Circle tatsächlich aus der Luft zurück auf die Straße bringen kann, steht allerdings noch in den Sternen. Wir haben uns mit dem Königs-Coupé auf große Reise begeben - und zwischen Zebrano-Holz, Moccasin-Leder und elektrisch dimmbarem LED-Firmament die Geister des „Grand Tourism“ erweckt.
Rolex, Patek Philippe, Vacheron Constantin, Baume et Mercier, Mirabaud & Cie. Mit seinen großflächigen Plakaten gleicht der Genfer Flughafen an diesem Morgen einem überdimensionierten Lifestyle-Magazin. Zielgruppe: männlich, erfolgreich, reich. Heute sind die Genfer Werbekonventionen jedoch nur die Details einer Simulation unter natürlichen Luxus-Verhältnissen: Zwei Tage und zwei Nächte wurden uns gegeben, um mit dem neuen Rolls-Royce Phantom Coupé von der Schweizer Uhren- und Finanzmetropole am Lac Léman einmal quer durch Frankreich bis zum Firmensitz ins englische Goodwood zu reisen. Mit im Paket für den „Gentleman’s Turn“: Ein Travel Guide mit den besten Hotels, Chateaux und Gourmet-Restaurants am Wegesrand, zeitgemäß einprogrammiert ins Satelliten-Navigationssystem.
Im wahren Leben hat die dritte Modellvariante der Phantom-Serie natürlich ihren Preis: Rund 350.000 Euro legt man für den neuen Zweitürer zunächst auf den Tisch – netto, versteht sich. Achtzig Prozent der Kunden erhöhen den Einsatz allerdings noch einmal, um ihrem Exemplar eine ganz persönliche Note zu geben. Neben neun Standardfarben bietet Rolls-Royce deshalb noch 44.000 weitere Lacktöne, die es mit zahllosen Holz- und Ledervariationen zu kombinieren gilt. Uns bleibt dieser Rubikon des guten Geschmacks glücklicherweise erspart, die Würfel sind bereits gefallen: Außenfarbe „Woodlands Green“ – in fünf Schichten lackiert und für fünf Stunden poliert, Innenfarbe „Moccasin Mono“, Edelholzfurnier „Zebrano“, Motorhaube und Fensterrahmen aus gebürstetem Stahl – so steht es zumindest auf dem handgeschöpften Beipackzettel im Handschuhfach.
Auf Knopfdruck schließt sich die Fahrertür mit einem sanften „Wooffft“ – und selbstverständlich von hinten nach vorne. Unter der blankpolierten Aluminiumhaube erwacht der aus der Limousine bekannte 6,75 Liter V12 Motor. Traditionsgemäß ist die Frage nach der Motorkraft mit einem kurzen „enough“ zu beantworten, doch wir verraten trotzdem: Die Maximalleistung liegt bei 453 PS, das maximale Drehmoment bei 720 Nm. Zu hören ist davon jedoch nichts – ebenso wie vom Rest der Außenwelt, die auf den ersten Streckenkilometern in gespenstischer Stille vor den fingerdicken Panoramafenstern vorbeizieht. Auch die Luft, die aus den Chromdüsen ins Innere strömt, scheint so fremd wie direkt vom Polarkreis importiert. Abstand, Einsamkeit, Isolation – zumindest in einem Rolls-Royce sind diese Werte noch positiv besetzt.
Das filigrane Volant hat im Vergleich zur Limousine etwas an Dicke gewonnen, die endlose Motorhaube lässt sich aber weiterhin mit den bloßen Fingerspitzen durch den Verkehr dirigieren. Als die Straßen kurviger werden, drücke ich die neue Sporttaste am Lenkrad, worauf sich der Zwölfzylinder aus der Ferne mit einem tiefen Brausen zu Diensten meldet. Da das neue Phantom Coupé technisch nicht auf der Limousine, sondern dem Phantom Drophead Coupé basiert – und somit auch die Karosserieversteifungen des Cabriolets übernimmt – liegt das Gesamtgewicht bei stolzen 2,6 Tonnen. Trotzdem genügt am Berg ein kurzer und beherzter Tritt aufs Gaspedal, um jenen legendären, wellenartigen Vorwärtsdrang einzuleiten, den die Briten in wortmalerischer Poesie als „waftability“ bezeichnen.
Und mehr noch: In den Serpentinenkurven des Jura demonstriert das Phantom Coupé seine neu gewonnene Agilität und Sportlichkeit. Dank gestrafftem Fahrwerk, veränderter Kennlinie des Gaspedals und kleiner Eingriffe in die Motorelektronik lässt sich der neueste, 5,6 Meter lange Rolls-Royce nicht nur zurückhaltend-elegant durch die Kehren steuern, sondern überraschend aktiv und dynamisch fahren. Der Motor scheint aggressiver zu drehen, die Automatik hält die Gänge länger und fast scheint es, als beträten die Briten mit dem Newcomer das Erfolgs-Segment der großen Hochdruck-Coupés à la Bentley Brooklands oder Mercedes CL 65 AMG. Doch nur fast: Denn das Phantom Coupé kennt seine Grenzen genau, es wird nie bissig oder laut, bewahrt auch in schärfsten Kurven die Contenance. Kraftmeierei, so die Botschaft, hat ein Rolls-Royce nicht nötig. Leistungspakete, Schaltpaddel am Lenkrad und ähnliche Power-Tools wird es unter Kühlerfigurina Emily nicht geben – end of story!
Dass ein Rolls-Royce auf andere Art zu beeindrucken weiß, wird uns spätestens bei der Fahrt durch die ersten französischen Dörfer bewusst, wo den Landwirten am Straßenrand kollektiv die Gitanes aus dem Gesicht fallen, als das Schiff vorüber gleitet. So distinguiert und meditativ das Fahrerlebnis im Inneren der rollenden Luxus-Eremitage sein mag, so überwältigend ist das Coupé in seiner Außenwirkung. Obwohl Chefdesigner Ian Cameron die Front im Gegensatz zur Limousine leicht entschärft, sprich: den Kühler geneigt und die Scheinwerferaugen verengt hat und das elegant abfallende Coupé-Dach die Silhouette deutlich glättet, bleibt auch der neueste Rolls-Royce Phantom ein Wesen aus einer anderen Welt. „Chicago 1929 on Valentine’s Day“, entgegnet Cameron scherzhaft auf die Frage, welchen Stil er mit dem neuen Modell verfolgt habe. Und tatsächlich: Mit seinen 21-Zoll-Rädern, der endlosen Stahlhaube, der hohen Schulterlinie, dem schmalen Fensterband und dem angedeuteten Kotflügel-Schwung an der Flanke würde das Coupé zum Co-Star jeder Al-Capone-Verfilmung taugen.
Es dämmert bereits, als wir über die Pflastersteine einer langen Allée zum Château de Courcelles, unserem Hafen für die Nacht, gleiten. Der Himmel ist wolkenbedeckt, und trotzdem leuchten über uns bereits unzählige Sterne. Noch so eine Eigenschaft, die Rolls-Royce von allen anderen Automobilherstellern trennt: Der Mut zur Phantasie – und vor allem ihrer Verwirklichung. Weil der elektrisch dimmbare Sternenhimmel aus über 1.500 von Hand eingesetzten LED-Lämpchen den Kunden so viel Freude machte, wurde er von der Konzeptstudie kurzerhand in die Serie übernommen. Wenn man jeden Käufer mit Handschlag begrüßt, kann man sich so etwas erlauben. Während 10.000 Meter höher eine beliebige First-Class-Maschine bereits mit dem Landeanflug auf Heathrow beginnt, schließen wir sanft die Türen unseres Reisewagens und begeben uns in den Speisesaal, zu exzellenter Foie Gras und hausgemachtem Limonen-Sorbet. Bis Goodwood ist es noch ein weiter Weg. Ein Glück.
Text & Fotos: Jan Baedeker
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