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Magazin

Mercedes-Benz 300 SE Rennflosse

Fahren ohne Limit

Text, Fotos & Video: Mathias Paulokat

Sternkraftwerke, der dritte Teil: mit Mercedes-Benz Tourenwagen durch die Kurven fliegen, das Gaspedal hemmungslos ans Bodenblech heften. Das Drehzahlband in voller Breite auskosten. Speed, Schall, Rauch. Und Rausch. Zeit ist plötzlich relativ. Genießen Sie mit Classic Driver in der 300 SE Rennflosse von 1962 den letzten Teil der Stuttgarter Trilogie - eine Grenzerfahrung im Reich der Silbersterne.

Die Maschine der Silberflosse bellt auf, dreht sich nach ein paar Gasstößen frei und dröhnt kerngesund in den frischen Morgen. Ein Motor, der zu uns spricht: „Hier bin ich und es geht mir gut!“ Ganz eindeutig ein Sechszylinder. Hell und giftig im Klang. „Unverkennbar der W 112er. In der 300 SE Rennflosse schlägt ein durchtrainiertes Sportlerherz. Basis ist ein Rumpfmotor aus dem 300 SL Flügeltürer“, ruft Eigentümer Klaus Behrmann zwischen einigen beherzten Tritten auf das Gaspedal herüber.

Video:

Gelassen sitzt der ehemalige Rennfahrer und Haudegen hinter dem Steuer, heizt den knapp drei Litern Hubraum hemmungslos ein. Wieder und wieder legt er nach. Hörbar giert der Motor nach mehr Kraftstoff. Die Ventile spielen Staccato. Trommelfeuer ist ein Schlummerlied dagegen. Der gesamte Motorblock – ein metallischer Resonanzkörper automobiler Urklänge.

Und dennoch klingt der 300 SE kultivierter, virtuoser und weniger brutal als sein großer Nachfolger, der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 (6.9), dessen akustische Apokalypse und ungestümen Vorwärtsdrang ich zuvor bereits selbst erfahren hatte. Jetzt also die Flosse. Silber. Schier. 45 Jahre alt und topfit.

Zeig her die Flosse!

„Hands on!“ Ich will mitspielen. Meine warm gefütterte Sturmjacke lege ich in den Kofferaum. Ich suche den direkten Kontakt mit diesem Benz. Die Sitzschale drückt sich mir ins Kreuz und hat mich fest im Griff. Noch etwas dichter ran ans Steuer. Gut so. Statt des filigranen Flossenlenkkranzes mit dem verchromten Hupring, halte ich ein kompaktes Volant in den Händen, das auf einer Lenksäule sitzt, die wie eine Lanze ins ausgeräumte Wageninnere ragt.

Das Ambiente der athletisch durchtrainierten Flosse erinnert mich im ersten Moment an ein Wohnzimmer im Rohbau. Behaglichkeit? Fehlanzeige. Einziger Trost: die Instrumente sind schon da. Dem Drehzahlmesser, der in diesem Fahrzeugtyp sonst nur vervollständigendes Beiwerk der Uhrensammlung war, kommt in diesem 300 SE die Hauptrolle zu. Denn dies ist hier ein Arbeitsplatz, kein Clubraum.

Fitneßraum oder Folterkammer?

Das Dröhnen des Lehrlaufs in den Ohren, lasse ich meinen Blick noch für Momente schweifen. Unverkleidete Wandungen, offene Bowdenzüge, Hebel, Pedale, silbergrau lackierte Bleche und Details in Chrom: kein Wunder, daß die zweite Assoziation einem Fitneßraum gilt oder einer Folterkammer – je nachdem, wie es um das fahrerische Können des Piloten bestellt ist. Ich rekapituliere Fakten und Historie dieses Fahrzeugs: Ursprünglich glänzte diese Limousine in der Sonderfarbe 408 Havannabraun. Die Lederpolsterung war passend in Cognac gehalten. Die Fahrzeugkarte dokumentiert den besonderen Geschmack des Bestellers: auf Weißwandreifen verließ die Edelflosse die Werkshallen.

„Diese Eleganz bewahrte sie jedoch nicht vor einem unschönen Motorschaden“, weiß Klaus Behrmann, der sich das Fahrzeug vor über 40 Jahren sicherte und beiseite stellte. Über Jahre sammelte er Teile für die angehende Sportflosse und ließ sie schließlich 1996 in seinem Betrieb als Rennauto aufbauen. „Kompromißlos: Ohne Dämmung, ohne Innenausstattung, dafür mit Überrollkäfig, kürzer übersetzter Hinterachse, Rennschalensitz, Plexiglasscheiben und nur den nötigsten Instrumenten.“

Statt Unterbodenschutz glänzt auch die Unterseite des Rennfahrzeugs in Wagenfarbe Silbergrau, denn auch das spart Gewicht. 232 PS bringt die neuwertige Pretiose auf die Antriebsräder. „Der Motor dreht bis zu 7.000 Touren. Durch die Vibrationen lösten sich aber oft die Kontermuttern der Ventileinstellschrauben“, erinnert sich Behrmann. „Deswegen haben wir sie mit Schweißpunkten fixiert.“ Ohne Worte.

Ein kurzer Drift. Das war es.

Mit einem Fahrzeug gleichen Typs und später dann mit dem 300 SEb (W 108) fuhr Behrmann vier Jahre lang Rundstreckenrennen, war von 1965 bis 1967 Hamburger Meister und 1965 Dritter bei der deutschen Rundstreckenmeisterschaft. Das hole ich heute nicht mehr ein. Schon mangels Konkurrenz. Die Strecke gehört mir allein, mir und dem Silberbenz.

Ich trete das Gas durch. Sofort steigt der Bug. Die Haube hebt sich scheinbar und der 300 SE prescht stürmisch noch vorne. Wunderbar läßt sich über die geschwungene Front des Wagens aufgrund seiner stehenden Kotflügel der Weg peilen. Der Motor schlürft jetzt nicht mehr, er säuft den hochoktanen Sprit durch die Leitung, gießt ihn in die Einspritzanlage, vernebelt ihn durch die Ventile und schenkt ihn großzügig in den sechs Brennräumen aus. Wie an einer Tafel wird hier aus sechs Töpfen in Reihe gebechert. Jedenfalls klingt es so. Wie eine Horde Wüstenwanderer, die kurz vor dem Verdursten sind und nun eine sprudelnde Quelle gefunden haben.

Die Flosse verschluckt sich ein ums andere Mal. Sprotzt, hüstelt und spuckt. Ich reduziere das Gas und bringe den Motor etwas gezügelter auf Betriebstemperatur. Die schwarze Kugel des Schaltstocks liegt in meiner rechten Hand und ich führe den Stab durch die Kulisse. Das geht mechanisch präzise. Fast behende und leichtgängig. Die Lautstärke schwillt wieder an. Herrlich füllig. Baßlage. Dann mit mehr Timbre. Lauter. Wilder. 5.000 Umdrehungen. 6.000 Umdrehungen. Noch höher. Sechseinhalb. Gas weg. Kuppeln. Schalten. Und drauf. Der Motor brüllt. Entledigt sich nun komplett seiner restlichen Manieren und zeigt sich hemmungslos.

Die Kurve fliegt näher. Ich fühle mich sicher. Leicht nur reduziere ich das Gas und die Geschwindigkeit. 140 km/h zeigt der Tacho. Verläßlich und berechenbar lenkt der 300 SE ein, schießt durch den Halbrund. Der Kurvenausgang. Beschleunigen, ein leichter Drift. Das war es schon. Es geht wieder gerade aus. Und es hat überhaupt nicht weh getan. Dafür macht es süchtig. Wie ein gut gebrannter Obstler, von dem man heiter beschwipst zuviel gekostet hat. Die Flosse hat mich fest im Griff oder ich sie? Ich weiß es nicht, zähle die Runden längst nicht mehr und gebe mich dem Rausch geschlagen. Plötzlich sehe ich Klaus Behrmann an der Piste. Er schwenkt einen Kanister hin und her. Schlagartig wird mir bewußt, daß der Rennmotor einem schwarzen Loch gleicht, in dem beängstigend schnell der Inhalt des gesamten Kraftstoffreservoirs verschwindet. Ich steuere den Wagen in die Gasse. Tankstopp. Besinnungspause. Und Zeit für Heldengeschichten.

Verlust der Vernunft

Klaus Behrmann ist ein Mann des Motorsports, auch wenn er nie bei einem Werksteam engagiert war. Er zählt zu jenen Privatfahrern, die im Schatten der großen Namen und Teams seiner Marke Mercedes-Benz über Jahrzehnte verbunden geblieben sind. „Ich war immer auf eigene Faust unterwegs. Nach dem Krieg zunächst beim Hamburger Stadtparkrennen mit dem Motorrad. Der Rundkurs war jedoch extrem heikel. Deswegen habe ich umgesattelt und erste Rallye-Luft geschnuppert. Mit dem deutschen Rundstreckenmeister von 1965, Manfred Schiek, ging es auf 220 SEb und 300 SE Heckflossen weiter“, erzählt er.

„Eine verrückte Zeit. Werktags kümmerten wir uns um unseren Mercedes-Benz Vertragsbetrieb nördlich von Hamburg, am Wochenende schwärmten wir zum Rallyefahren aus. Quer durch Holstein, Dänemark und Südschweden. Auf der Rallye Baltic haben wir 1965 den Gesamtsieg heraus gefahren. Da ging es auch gegen Werks-Porsche. Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke. Die Fahrer sind gebrettert, als hätten Sie Vater und Mutter vergessen. Ein Wahnsinn. Der Verlust aller Vernunft.“ Deswegen entschloß sich Behrmann erneut, die Disziplin zu wechseln, den Limousinen mit Stern aber die Treue zu halten. „Hiernach bin ich nur noch Berg- und Rundstreckenrennen gefahren, beispielsweise auf Veranstaltungen vom ADAC und AvD. Erstmals ging ich da mit einem 300 SEb der 1965 vorgestellten Baureihe W 108 an den Start. Die Gegner waren leichte und schnelle Mini-Cooper, BMW 1800, Alfa Romeo und Porsche 911– ganz klar, die Exoten in diesem Feld waren die Sternenkreuzer.“

In der Tat hatte sich Daimler-Benz 1964 aus dem Motorsport zurückgezogen. Die Zeit der großen Limousinen als Sportgeräte schien vorüber. Eine Reihe von ambitionierten Privatfahrern mischte trotzdem weiter mit. „Auf eigene Rechnung mit eigenen Fahrzeugen“, erzählt Behrmann, „unsere eigenen Rennautos waren aus Kostengründen immer auch für den Straßenverkehr zugelassen. Zur Motor- und Fahrwerkseinstellung nutzten wir kurzerhand die Anfahrten zur Rennstrecke.“

Natürlich blieben professionelle Werkteams anderer Marken bei den Rennen im Vorteil, die Ergebnisse der Sternfahrer indes wurden hingegen oft auch dem Hersteller zugerechnet und so gab es wenigstens „punktuelle Unterstützung vom Daimler, wie bei Motor- und Getriebeteilen“, erinnert sich Behrmann. „Wiederum eine nicht ganz einfache Situation, denn aus diesen kleinen Hilfestellungen machte die Presse schnell verdeckte Werkseinsätze, was in Stuttgart nur bei guten Platzierungen Wohlgefallen auslöste.“

Der Tank ist voll. Der 300 SE wieder gestartet. Ich stehe und gucke. Klaus Behrmann löst erneut die Bremse. Die Drehzahl schnellt wieder nach oben, der Silberstern springt nach vorne, röhrt heiser und eilt auf der kurvenreichen Strecke schnell außer Sichtweite. Flosse weg! – Nur der charakteristisch flirrende Auspuffklang kündet vernehmlich von der Anwesenheit des Sternkraftwerkes, das dort draußen seine Bahnen zieht.