Vom Marzal zum Espada
Text & Fotos: Jan Baedeker
Video: Kai Klinke, Moderation: J. Philip Rathgen
Während 1968 die europäische Jugend gegen Konsum und Establishment revoltierte, präsentierte Lamborghini auf dem Genfer Salon den hedonistischen Gegenentwurf: Der Espada war ein gewaltiger Reisesportwagen für Jet-Set-Familien, unglaublich durstig und unverantwortlich schnell. Bis heute steht Bertones exzentrischer Entwurf im Schatten des glorreichen Miura – doch die Preise steigen.
Ende der Sechzigerjahre. Das Wirtschaftswunder hatte Wohlstand nach Europa gebracht. Man zeigte, was man besaß – gerne in Form extrovertierter Automobile. Beeinflusst vom amerikanischen Markt und den Wünschen der alternden Kundschaft konstruierten die italienischen Sportwagenmanufakturen immer größere und komfortablere Modelle. Ferrari etwa präsentiert 1967 den 365 GT 2+2, ein geräumiges und komfortables Reisecoupé. Mit dem Maserati Mexico und dem Iso-Rivolta GT, aber auch dem britischen Jensen Interceptor und dem Monteverdi 375 L aus der Schweiz standen solventen Cosmopoliten eine ganze Reihe von sportlichen Straßengleitern zur Wahl. Auch bei Lamborghini wurde an der bürgerlichen Modellzukunft gearbeitet: Mit dem Mittelmotor-Sportwagen Miura war 1966 eine neue Marke im Leistungssport gesetzt worden, nun musste der passende Gran Turismo entwickelt werden. Bei Bertone begann der junge Designer Marcello Gandini seine Arbeit an der Konzeptstudie eines viersitzigen Coupés, das ebenfalls von einem Mittelmotor auf Touren gebracht werden sollte.
Auf dem Genfer Salon 1967 präsentierte Bertone den ersten, eindrucksvollen Prototyp. Der Lamborghini Marzal basierte auf dem verlängerten Fahrwerk eines Miura, der 175 PS starke Sechszylinder-Reihenmotor wurde aus der Hälfte eines Miura-V12 konstruiert. Das Styling war betont futuristisch: Hinter gläsernen Flügeltüren glänzten vier mit silbernem Leder bespannte Einzelsitze und in fast allen Designelementen fand sich Gandinis damaliges Lieblingsmotiv: das Sechseck. Der Prototyp war ein Publikumsmagnet – und sogar Fürst Rainier eröffnete den Grand Prix von Monaco 1967 am Steuer des Lamborghini Marzal. Doch Ferruccio Lamborghini war nicht zufrieden. Dem Firmenlenker war der Entwurf zu avantgardistisch – und auch der Miura als Basis erschien ihm nicht optimal. Der talentierte Ingenieur Giampaolo Dallara wurde beauftragt, das Chassis des 2+2-sitzigen Lamborghini 400 GT um zehn Zentimeter zu strecken und den Miura-V12 so weit wie möglich an die Front zu versetzen, um einen möglichst großen Innenraum zu schaffen. Das Redesign übernahm erneut Marcello Gandini bei Bertone.
Weltpremiere in Genf
Auf dem Genfer Salon 1968 war schließlich der erste Protototyp des Lamborghini Espada 400 GT zu sehen. Technisch war der nach dem Degen der spanischen Stierkämpfer benannte Gran Turismo ein neues Automobil, die Grundform des Marzal wurde Gandini jedoch beibehalten. Anstelle der Glasflügeltüren hatte man bei Bertone eine klassische Coupé-Tür eingesetzt. Die charakteristische Fensterlinie, die auf Höhe der Rücksitze steil nach oben anstieg, hatte man von einem anderen Bertone-Konzept übernommen: dem Pirana, einer im Auftrag des „Daily Telegraph“ entworfenen E-Type-Variation. Die eigentliche Überraschung waren jedoch die grotesken Proportionen des Espada: Die Spur des alten Lamborghini 400 GT war um zehn Zentimeter verbreitert worden, was zu einer Gesamtbreite von 1,82 Metern führte. Mit 4,70 Metern Länge erreichte der Reisesportwagen die Abmessungen einer ausgewachsenen Mercedes-Limousine. Bei der Höhe hatte man dagegen gespart: Die Dachlinie erreichte am höchsten Punkt gerade einmal 119 Zentimeter. Niedriger konnte man zu viert nicht reisen.
Bis heute beeindruckt auch die gewaltige Motorhaube, unter der die Ingenieure den 3,9 Liter V12 des Miura mit 60°-Zylinderwinkel untergebracht hatten. Der Journalist Dave Selby schrieb erst kürzlich im britischen Octane Magazine: „Wenn man die absurden Benzinkosten nicht mehr bezahlen kann, malt man einfach ein H auf die Haube und nutzt den Espada als Hubschrauberlandeplatz.“ Durchbrochen wurde die Fläche nur von zwei „Naca“-Lufteinlässen, die Gandini als Reminiszenz an die Luftfahrt eingezeichnet hatte. Den Kontrast zur geduckten, flachen Front bildete ein hochgezogenes, massives Bootsheck, das den Wagen aus mancher Perspektive etwas linkisch erscheinen ließ. Für bessere Sicht nach Hinten hatte man unter der flach liegenden Heckscheibe ein weiteres, senkrecht stehendes Heckfenster eingesetzt. Der Espada war keine automobile Sexbombe wie der Miura, seine zwischen muskulöser Kraft, eleganten Kurven und schierer Großflächigkeit gespannte Erscheinung muss nicht nur bei seiner Genfer Premiere Grotesk gewirkt haben. Und dennoch hatte der Newcomer Erfolg.
Ein Geheimnis war natürlich die verlockende Sportlichkeit. Aus 3,9 Litern Hubraum generierte das Zwölfzylinder-Triebwerk zunächst 325 PS, die ab 6.500/min abgerufen wurden. Über ein Lamborghini-Fünfgang-Getriebe wurde die Kraft auf die Hinterräder geleitet. Von 0 auf Tempo 100 beschleunigte der Espada in weniger als acht Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit lag – wie beim Ferrari 365 GT 2+2 – bei 245 km/h. Nur der Maserati Mexico konnte die Vmax seinerzeit noch um 10 km/h toppen. Über den Benzinverbrauch findet man dagegen nur wenig verlässliches. Tatsächlich wurde der gewaltige Lamborghini auch von der Presse als praktischer und alltagstauglicher Familiensportwagen begrüßt – und zwar völlig ohne Ironie. Die Welt hatte ihre erste Ölkrise schließlich noch vor sich.
Typenkunde
Der Lamborghini Espada war für Sant’Agata ein voller Erfolg. Zwischen 1969 und 1978 wurden etwa 1.224 Modelle produziert, wobei insgesamt zwischen drei Modellserien unterschieden werden muss. Während das Karosseriedesign über die Jahre kaum angetastet wurde, erhielten Technik und Innenraum für jedes Modellupdate ein umfangreiches Modernisierungsprogramm. In der ersten Serie entsprachen die Armaturen noch der Sechskant-Logik des Marzal, während die dritte und letzte Serie mit ihren zum Fahrer hin geneigten Schalttafeln an ein Flugzeug-Cockpit erinnerte. Auch die technischen Entwicklungen waren bedeutend: Im Gegensatz zum Ferrari 365 GT verfügte der Lamborghini Espada bei seiner Markteinführung weder über eine Servolenkung, noch über eine hydropneumatische Federung. Letztere wurde im Herbst 1968 nachgereicht, fand aber nur wenig Anklang bei den Kunden. Ein Lamborghini sollte für viele Käufer auch mit vier Sitzen ein echter Sportwagen bleiben.
Auf dem Brüsseler Salon 1970 wurde die zweite Generation des Espada präsentiert. Neu waren innenbelüftete Scheibenbremsen und ein neues Nockenwellenprofil, das aus dem V12 ganze 25 PS mehr generierte. Der Innenraum wirkte nun klassischer, besser verarbeitet – und dank einer neuen Klimaanlage auch komfortabler. Bis zum Ende des Jahres wurden 228 Exemplare verkauft. Im Herbst enthüllte Lamborghini in Paris zudem eine Sonderedition names „VIP“: Der Innenraum des orangefarbenen Espadas war luxuriös ausgestattet, auf der Mittelkonsole thronte ein tragbarer Fernseher von Richard Sapper, und an der in den Seitenverkleidungen versteckten Bar hätte „Mad Man“ Don Draper seine helle Freude gehabt. 1972 wurde in Turin schließlich die dritte Espada-Serie lanciert. Der neue Modellzusatz 400 GTE (oder Mark III in Großbritannien) stand für zahlreiche Veränderungen: Neue Scheibenbremsen und Schraubfedern, überarbeitete Dreieckslenker, eine zweite Lichtmaschine und die lang ersehnte Servolenkung gehörten zum Umfang des Updates. Zwei Jahre später bot Lamborghini für den Espada auch ein Automatikgetriebe an, doch das damit einhergehende Absinken der Höchstgeschwindigkeit um 20 km/h machte die Automatik zum Ladenhüter.
Mittlerweile war Lamborghini nicht nur von den Auswirkungen der aufkommenden Ölkrise betroffen, sondern auch in ernsthaften personellen Turbulenzen geraten. Firmengründer Ferruccio Lamborghini hatte seine Anteile verkauft und sich aus der Produktion zurück gezogen. Auch wichtige Ingenieure kehrten der Marke den Rücken. Bis 1978 wurde der Espada ohne große Veränderungen produziert, dann endete die Geschichte des letzten großen Reisewagens aus Sant’Agata Bolognese. Bis Mitte der Neunzigerjahre fristete der Espada ein Dasein als automobile Skurrilität. 1997 wurde die Szene aufmerksam, als der Espada des persischen Shahs für 20.000 Pfund Sterling versteigert wurde. Heute werden die unkonventionellen GTs ab 20.000 Euro gehandelt, wobei gut erhaltene und restaurierte Exemplare leicht den doppelten Kaufpreis erreichen.
Das Fahrerlebnis
Rendezvous mit einem Lamborghini Espada der dritten und wahrscheinlich auch besten Serie in leuchtendem Orange. Erster Eindruck: Verdammt ist der Wagen flach! Das Dach reicht bis zur Hüfte und beim Einstieg bzw. Abstieg ins Cockpit sind Yoga-Profis klar im Vorteil. Seltsam auch die Sitzposition. Aufrecht, fast nach vorne gebeugt, sitzt man auf den Ledersesseln, das große Lenkrad zwischen den Knien und den Kopf nur wenige Zentimeter unter dem Dach. Die Knöpfe an der Mittelkonsole erreicht man dagegen nur im abgeschnallten Zustand. Europäische Körpernormgrößen haben die Designer wohl kaum interessiert. Trotz der niedrigen Decke ist es hell und geräumig, die Ledersitze sind bequem und auch im Fond können Erwachsene tatsächlich ein paar Stunden verbringen – Vertrauen in den Fahrer des teuflischen Zwölfzylinders vorausgesetzt.
Man dreht den Schlüssel und Momente später erwacht das technische Herzstück spürbar zum Leben. Ein tiefes, sattes Grollen lässt den Wagen erschaudern, doch hat man die schwere Kupplung erst einmal getreten und in der haarigen Schaltung den ersten Gang gefunden, bewegt sich der Lamborghini nur schwerfällig nach vorne. Wer hauptsächlich in modernen Sportwagen unterwegs ist, muss erst alle Hemmungen fallen lassen und den Gasfuß beherzt durchtreten, bis es laut wird. Der Espada braucht Drehzahl – und sollte eigentlich nicht im Stadtverkehr bewegt werden. Bei rund 4.000 Umdrehungen erreicht der Motor seine Betriebstemperatur, um 170 km/h findet man eine angenehme Reisegeschwindigkeit. Bei geschlossenen Fenstern bleibt es übrigens verhältnismäßig leise. Betätig man jedoch die Fensterheber und den Knopf für das seltene, serienmäßige Schiebedach, schlagen mit dem Fahrtwind die rauen Salven des V12 ins Cockpit.
Der Radstand von 2,65 Metern bringt auf der Autobahn eine satte Straßenlage, sobald es kurvig wird, ist vom Fahrer sportlicher Einsatz und Einfühlungsvermögen gefragt. Mit knapp 1,5 Tonnen ist er zudem kein Leichtgewicht. Wie bei fast allen italienischen Sportwagen seiner Epoche benötigt man eigentlich Wochen und Monate, um den Espada wirklich kennen zu lernen. Erst wenn man seine Vorlieben und Eigenheiten respektiert, eröffnet er seinem Fahrer das volle Fahrvergnügen. Wenn man sich schließlich abends in einer Wolke unverbrannten Benzins aus dem Cockpit schält, mit schmerzendem Kupplungsfuß und verbogenem Nacken, lässt sich die Hingabe von Männern wie Ferruccio Lamborghini, Marcello Gandini oder Giampaolo Dallara erst wirklich begreifen.
Der von uns getestete Lamborghini Espada S3 steht momentan bei Mehne Automobiles in Hamburg zum Verkauf. Weitere Informationen sowie die Kontaktdaten zum Vereinbaren einer Probefahrt erhalten Sie im Classic Driver Automarkt.
Die Fakten
Motor: V12-Frontmotor mit 60°-Zylinderwinkel
Hubraum: 3,9 Liter
Max. Leistung: 325 PS bei 6.500/min. (S1), 350 PS bei 7.500/min. (S2, S3)
Kraftübertragung: Fünfgang-Getriebe, optionales Automatik-Getriebe (S3)
Länge: 4.700 mm
Breite: 1.820 mm
Höhe: 1.190 mm
Radstand: 2.650 mm
Gewicht: 1.480 kg
Beschleunigung: 0 auf 100 km/h in unter acht Sekunden
Höchstgeschwindigkeit: 245 km/h (S1), 260 km/h (S2), 250 km/h (S3), 230 km/h (S3 Automatik)
Produktionszeitraum: 1968 bis 1978
Stückzahl: etwa 1.224 Exemplare