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Kommentar: Wiederentdeckung der Langsamkeit

Sinnsuche in einer scheinbar von ihrem Sinn entleerten Zeit. Wie funktioniert das eigentlich? Mit der Konzentration auf das Wesentliche: der Zeit an sich. Erst der selbst bestimmte Umgang mit Zeit stiftet innere Zufriedenheit und damit erlebten Sinn. Wir haben ein Patentrezept zur dringend benötigten Entschleunigung gefunden: langsame Automobile. Sie wirken wie eine Art Zeitanker, meint Mathias Paulokat.

„In einer Zeit rasender Geschwindigkeit benötigen wir Dinge, die uns innehalten lassen.“ So habe ich es selbst vor über zehn Jahren in einem Essay für Spiegel Online geschrieben. Nicht ohne automobilen Hintergrund: mein Artikel vom 23. Januar des Jahres 2001 beschäftigte sich mit dem Mercedes-Benz 200 D der legendären Baureihe „Strich-Acht“ – ein Fahrzeug mit eingebauter Langsamkeit. „Mit einem 200 D fährt man nicht, obwohl er langsam ist, sondern weil er langsam ist“, so lautete meine kühne These. Denn dieser Vorglühgedenkminuten-Diesel repräsentiert die mobile Rebellion gegen das ewige Diktum des „schnell, schneller, am schnellsten“ unserer Zeit. Für den in unserer Klassiker-Rubrik porträtierten Mercedes-Benz 180 D Ponton gilt das in gleicher Weise. Heute, eine Dekade später, stelle ich mit einigem Erstaunen fest: Das Thema der scheinbar verloren Zeit ist aktueller denn je. Wo man auch hinhört: Alle klagen darüber, zu wenig Zeit zu besitzen. Zeit genießen? Also bitte, dafür hat man nun wahrlich keine Zeit.

Man müsste wieder mehr Zeit für die Zeit haben. Hier soll die moderne Technik helfen. Ergebnis: Die Antwort auf die ständig erlebte und erlittene Zeitnot, wird in nochmaliger Beschleunigung gesucht. Schnelle Automobile sind hier nur ein Baustein, der sich in das Phänomen der ihrer Zeit bestohlenen Gesellschaft schlüssig einfügt. Und ganz nebenbei bewirkt, dass der aktuelle Urahn des 200 D mit gleichvolumigen Dieselmotor wie ein klassischer Sportwagen in rund zehn Sekunden von 0 auf 100 km/h sprintet. Das ist technisch faszinierend und zugleich, Sie entschuldigen, absurd. Aber immerhin logisch konsequent. Denn wir sind einem grundsätzlichen Irrtum verfallen. Dem Irrtum, Zeit managen zu müssen, Zeit managen zu können. Turbolader, Blackberry oder iPhone sind bei diesem Kalkül heiß geliebte und doch trügerische Helfer, um der ewigen Zeitnot zu entfliehen – und: um sich letztlich den Kalender noch enger mit Terminen zu füllen. Schließlich läuft der neue 5er ja problemlos 250 km/h. Will sagen: Da geht noch was!

Tatsächlich? Das Ergebnis ist am Ende eines Tages präzise formuliert zumeist das genaue Gegenteil: frustrierend. Die Gleichung kann nicht aufgehen. Denn wir erhöhen nur die möglichen Fehlerquellen. Und eliminieren die letzten Zeitpuffer. So gelangen wir notwendigerweise ständig an unsere Grenzen. Schlimmer noch: Kommt das enge Termingerüst ins Wanken, reagieren wir ganz schnell mit „professionellem Zeitmanagement“. Es wird gecancelt, umdisponiert, neu terminiert. Eine Lösung ist das nicht. Wir sind fremd gesteuert. Von seelenloser Technik gelenkt. Und von Zufällen abhängig. Professionalität sieht anders aus.

Dabei ist unser Problem banal: Uns ist das Verständnis für Zeit und den richtigen Umgang mit Ihr abhanden gekommen. Denn Zeit ereignet sich einfach. Erst wer Anspannung und Entspannung, wer Beschleunigung und Entschleunigung bewusst erlebt, gewinnt das Verständnis für Zeit und Tempo zurück. Übertragen auf das tägliche Dilemma: Es braucht Unterbrechungen des Alltags. Ganz bewusst gesetzte Pausen. Rituale, die uns einbremsen. Zäsuren, die gezielt das Tempo nehmen, um Kraft zu tanken und neu ansetzen zu können. So wie der Londoner Tweed Run. Sie schmunzeln und entgegnen, dass Sie für derlei Esoterik nun wirklich überhaupt keine Zeit hätten. Zugegen, das bewusste Herunterfahren und Abschalten fällt schwer – suggeriert uns doch alle Welt ständig, mit Vollgas auf der Ideallinie durch Leben ans Ziel eilen zu können. Stopp: Welches Ziel eigentlich? Ohne das Bewusstsein für sich selbst, sind alle Ziele sinnlos.

Da der menschliche Wille schwach ist, hilft nur eines: Wir müssen ihn austricksen. Ein langsames Automobil ist ein hervorragendes Instrument, um Entschleunigung bewusst zu erfahren. So ein Ponton mit seinen 40 PS funktioniert wie ein Zeitanker. Denn die Mechanik setzt der Raserei ganz automatisch ihre Grenzen. Gleichzeitig aber sind wir nicht fremd gesteuert, denn wir sitzen noch selbst am Lenkrad und fühlen uns als Herr der Lage. Das hör- und spürbare Arbeiten der Mechanik aus Motorraum und Getriebe stimmt uns milde. Gangwechsel sind ein bewusstes Erlebnis. Plötzlich ist Zeit da, um nicht nur durch die Frontscheibe, sondern auch aus dem Seitenfenster zu schauen. Und die vorüber gleitende Welt mit anderen Augen zu sehen und dabei Neues zu entdecken: das Café an der Ecke, der versteckte Weg in die Feldmark, der abwechslungsreiche Straßenzug, den man sonst nur mit Tunnelblick durchraste. Autobahn? Danke nein, lieber die Landstraße. Ja, plötzlich ist Zeit da. Und das ist wahrer Luxus. Sagen Sie morgens einfach: „Schatz, ich fahre heute nicht mit dem 911. Ich nehme den Ponton.“ Oder meinetwegen den Land Rover, den Strich-Acht, den Unimog – und wenn es denn unbedingt doch ein Porsche sein muss: den Traktor. Sie werden erleben: es funktioniert. Es entschleunigt, schärft die Sinne und es schenkt Zeit für das Wichtigste: für einen selbst.

Text & Fotos: Mathias Paulokat