Paradigmenwechsel im Automobildesign: Während beim äußeren Auftritt künftig Zurückhaltung gefordert ist, wird im Innenraum das kreative Chaos zelebriert. Bei der Mailänder Möbelmesse zeigten BMW und Mini entsprechend experimentelle Einrichtungskonzepte. Der Abschied vom schwarzen Leder dürfte dennoch auf sich warten lassen.
Entwurzelte Blumenwiesen, tiefgefrorene Schmetterlinge und die Sternchen des Mailänder Modehimmels – für das große Countryman Picknick am Vorabend des Salone del Mobile hatte Mini sich wahrlich nicht lumpen lassen. Im derzeitigen Trendviertel von Mailand, der Zona Tortona, war eine Studiohalle in eine oberbayerische Sommerlandschaft verwandelt worden, um den neuen, naturburschigen Mini Countryman zu inszenieren. Vier Designer hatten den geländegängigen Kombi nach ihren Vorstellungen für ein virtuelles Wochenende auf dem Land beladen. Und während die hochhackige Lokalprominenz zwischen bemoosten Baumstämmen und vom künstlichen Koma sichtlich benommenen Faltern umherstarkste, wurden die geladenen Vertreter der sogenannten Lifestyle-Presse mit den aufwändig komponierten Kofferrauminhalten vertraut gemacht.
Ich packe meinen Mini und nehme mit...
Margherita Maccapani Missoni, Enkelin und Markenbotschafterin des gleichnamigen Mailänder Strickmodeimperiums, hatte ihren persönlichen Countryman mit einem antiken Picknickkorb, teuren Gummistiefeln, einem DVD-Player, Rotwein und kunstvoll zerknüllten Missonidecken so vollgepackt wie eine überdimensionale Damenhandtasche. Etwas glaubwürdiger in der Rolle des naturverbundenen Blumenkindes präsentierte sich derweil Delfina Delettrez Fendi. Die zweiundzwanzigjährige Schmuckdesignerin hatte zwar auch Kissen und Decken ihrer Familienmarke eingeschmuggelt, darüber aber nicht das leibliche Wohl und die sportliche Betätigung vergessen: Mit einem Laib Brot, Olivenöl, Tomaten, Karotten und Sellerie, Töpfen mit Rosmarin, Lavendel, Salbei, italienischem Rotwein, Klapprad, Hängematten, Teleskop, Schmetterlingsnetz und zwei Badmintonschlägern verwandelte die Fendi-Enkelin den Countryman in einen rollenden Viktualienmarkt. Typisch dagegen die Männer: Während die kanadischen Design-Zwillinge Dean und Dan Caten, Macher des Modelabels Dsquared, ihren Mini mit Zelt, Angel, Kajak, Gitarre und Wodka für einen postpubertären Pfadfindertrip bestückt hatten, kamen dem Niederländer Marten Baas so kurz vor der WM nur noch Fußbälle in Kopf und Kofferraum.
Hautfarbene Materialexplosion
Die Sehnsucht nach einem authentischen, gern auch etwas chaotischen Automobil als Lebensraum treibt derzeit auch andere Marken um. Statt klarer Flächen und kalter Materialien sei künftig wieder warme Wohlfühl-Atmosphäre angesagt, so kommuniziert es die krisengeschundene Branche. Einen mutigen Schritt in Richtung des automobilen Wohnzimmers hat gerade der BMW-Chefdesigner Adrian van Hooydonk unternommen und sich, angeregt durch persönliche Kontakte, mit dem Lichtkunstproduzenten Flos und der dänischen Textilmanufaktur Kvadrat zusammen getan. Bei der Mailänder Möbelmesse war nun das ungewöhnlichen Ergebnis der interdisziplinären Gruppenarbeit zu bestaunen. In einer kubistischen Materialexplosion hatten die Stardesigner Patricia Urquiola und Giulio Ridolfo den neuen BMW 5er Gran Turismo seiner äußeren Erscheinung beraubt. Hautfarbene, trichterförmige Lichtschächte verdeckten alle wesentlichen Karosserieelemente, gaben nur den Blick auf den Innenraum frei. Mit Klettverschlüssen hatten die Designer zudem Alltagsgegenstände auf den Kegelflächen befestigt: Zwei Taucherflossen, ein Anglerhut, eine Warnweste, ein Baseballschläger, Zeitschriften, Stofftiere, ein Fahrradreifen, alles mit beigefarbenem Klebeband umwickelt. Hier, im Artrium eines ehrwürdigen Mailänder Stadthauses, wirkte das Formenflimmern zumindest dadaistisch skurril, wenn nicht völlig durchgeknallt.
Doch BMW ist es ernst mit dem sogenannten „Dwelling Lab“, dem Wohnlabor. „Wärmere Materialien, weichere Rundungen, das alles sind konkrete Trends, mit denen wir hier in überhöhter Form experimentieren“, erklärte Initiator Adrian van Hooydonk. Und Patricia Urquiola, die Automobile bisher für sich als kreative No-Go-Area betrachtet hatte, ergänzte: „Normalerweise erleben wir Autos von außen, der Innenraum folgt an zweiter Stelle. Das Interieur schützt und verwöhnt uns, ein Raum, in dem wir uns gerne aufhalten und auch während der Reise wohlfühlen. Ich habe versucht, mit dieser Skulptur eine neue Raumerfahrung zu schaffen“. In der Tradition von Kvadrat kamen hierfür anspruchsvolle und innovative Textilien zum Einsatz. So ist der gesamte Innenraum mit einem puderfarbenen, im sogenannten „Thermowelded“-Verfahren veredelten Wollstoff bezogen. Als Mutter von zwei Kindern hatte Urquiola aber auch sehr praktische Anforderungen im Sinn: Der eigens entworfene Kindersitz mit zahlreichen Fächern und Haltern für Buntstifte und Spielzeuge dürfte kleine Fondpassagiere besser unterhalten als jedes Backseat-Entertainment-System. Während BMW bei den Art Cars bereits mit Künstlern wie Andy Warhol oder jüngst Jeff Koons zusammen gearbeitet hat, kam es für das „Dwelling Lab“ erstmals zu einem direkten Austausch mit Industriedesignern. Weitere automobile Wohnprojekte, etwa mit Designern wie Konstantin Grcic oder Alfredo Häberli, schließt van Hooydonk nicht aus.
Weg vom Leder
Natürlich liegt die Vermutung nahe, die Hersteller suchten die Nähe zu Kunst und Design, um von ihren tatsächlichen Problemen – Umweltdiskussionen, Umsatzeinbrüche – abzulenken. Doch die Konzepte in Mailand scheinen mehr zu bieten als medienwirksam inszenierten Eskapismus. Mit der Rückbesinnung auf den Lebensraum Automobil, in dem man immer mehr Zeit verbringt, und die Konzentration auf neue, organische, phantasievollere Konzepte der Einrichtung, gewinnt das Automobildesign eine in letzter Zeit vernachlässigte, nämlich menschliche Qualität zurück. Im Zentrum sollen fortan die Wünsche und Bedürfnisse der Passagiere stehen, heißt es. Ob und wann sich die spielerische Unordnung der Mailänder Chaostage auch in der Serienproduktion durchsetzen kann, wo derzeit noch schwarzes Leder und hermetische Kunststoffe die Ästhetik dominieren, ist eine andere Frage. Wirft man einen Blick in die zahllosen, farbenfroh ausgestatteten und liebevoll verlotterten Minis, die in Mailand das Straßenbild dominieren, scheint die Stilnation Italien der Antwort mal wieder einen Schritt näher zu sein.
Text & Video: Jan Baedeker
Fotos: Mini / BMW
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