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BMW M6

Ich fühle mich schuldig. Als würde ich etwas Verbotenes tun, eine geladene Waffe tragen oder eine exotische Raubkatze durch die Zollkontrolle schmuggeln. Doch ich kann meine Augen nicht von dem kleinen magischen Schalter wenden, auf dem in weißen Druckbuchstaben das Wort POWER leuchtet. Die Ampel springt auf gelb. Ein hastiger Blick in den Rückspiegel, kein Streifenwagen in Sicht. Die Nacht ist dunkel und sternenlos. Mein Finger ist auf dem Schalter, mein Fuß ist auf dem Gas. Im Head-Up-Display auf der Frontscheibe pulsiert das Drehzahldiagramm. Die Ampel springt auf grün. Ich drücke den Wahlhebel nach vorne. Es geht los.

Mit fünf Litern Hubraum, 10 Zylindern, 507 PS, 520 Nm, Drehzahlen bis 8.250/min und 4,6 Sekunden Wartezeit bis Tempo 100 ist der neue BMW M6 eigentlich für die Rennstrecke getrimmt. Das V10-Triebwerk und das Hochdrehzahlprinzip stammen direkt aus der Formel 1, die Nordschleife des Nürburgring hat das aufgerüstete Coupé aus den Entwicklungslaboren der BMW M GmbH bereits in beeindruckenden acht Minuten geknackt. Bei aktivierter ‚Launch Control’ beschleunigt das brachiale 6er-Coupé ohne manuelles Schalten blitzartig, mit optimalem Schlupf und perfektem Gang bis ans Limit – man darf nur den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen. Im zivilen Großstadtverkehr, so sollte man meinen, hat derartige Performance nicht viel zu suchen. Doch das „M“ auf den Lüftungskiemen steht nicht nur für Power und Performance, sondern auch für multiple Persönlichkeit, automobile Schizophrenie, die Verwandlung von Dr. Jeckyll zu Mr. Hyde.

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Einige Stunden zuvor. Das herbstliche Kopenhagen liegt in einer unwirtlichen Suppe aus Nebelschwaden und Nieselregen. Unauffällig rollt der bronzefarbene BMW durch die Straßen und Gassen der dänischen Hauptstadt. Der Automatikmodus des sequentiellen Siebengang-SMG-Getriebes arbeitet sanft, der Motor läuft in der Komforteinstellung mit „nur“ 400 PS und schnurrt beruhigend. Ich fahre mit dem Finger über das dunkle Leder der Armaturen, den Klavierlack der Mittelkonsole und lehne mich entspannt in die regulierbaren Luftkammern meines Fahrersessels. Mit 3D-Navigation, iDrive Multimediasystem, Volllederausstattung, 450 Litern Kofferraumvolumen und adaptivem Kurvenlicht ist der 2+2-Sitzer ein luxuriöses, komfortables, ja ideales Reisecoupé. „Wenn Arbeit doch immer so entspannt sein könnte“, denke ich und versuche, ein Gähnen zu unterdrücken. Ein paar junge Dänen, die aufgeregt winken und mir mit wippenden Füßen signalisieren, den Motor einmal „ordentlich aufheulen“ zu lassen, holen mich zurück in die Realität.


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Kiemenförmige Lufteinlässe? Form der Felgen? Zahl der Endrohre? Es gibt kaum ein Mann zwischen Reykjavik und Thessaloniki, der einen „echten M“ nicht zu erkennen und als Maß aller Dinge im weiß-blauen Markenkosmos zu schätzen wüsste. Beim BMW M6 sieht man den Unterschied zum Serien-Sechser vor allem an der gewaltigen Frontschürze mit den ebenso eindrucksvollen Lufteinlässen für die Beatmung des Motors und der Bremsanlage, die man hinter den betont offenherzigen Doppelspeichen-Aluminiumfelgen übrigens unverhohlen bewundern kann. Im Vergleich zum BMW M5, mit dem sich das Coupé den Motor und die Technik teilt, kann der M6 übrigens mit kürzerem Radstand, niedrigerem Schwerpunkt, direkterer Lenkung und leichtem Carbondach punkten.

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Doch zurück zum Start, zur Launch Control. Die Anzeigen neben dem Gangwahl-Hebel zeigen mir, dass ich die Motor- und Getriebedynamik sowie die Kennlinie der Dämpferkontrolle EDC auf Sport gestellt und das DSC ausgeschaltet habe. Etwas höher leuchtet nun auch die aktivierte Power-Taste: 507 PS stehen jetzt zu Ihrer Verfügung. Die Ampel springt auf grün. Vor mir der leere Beschleunigungsstreifen im Schein der Xenonscheinwerfer, dann eine unwirklich menschenverlassene Autobahn. Ich drücke den Wahlhebel nach vorn und trete gleichzeitig mit Druck aufs Gaspedal. Der Zehnzylinder brüllt auf und presst augenblicklich die gesamte Kraft auf die Hinterräder, die sich quiekend mit dem Asphalt vereinen. Ich werde nach vorne gerissen, fühle mich den russischen Astronauten in der Trainings-Zentrifuge von Baikonur plötzlich sehr nah. Das Heck zuckt und zappelt wie ein verwundeter Hai an der Angel und ich habe Mühe, die Kontrolle nicht zu verlieren. Doch mein Fuß bleibt fest auf dem Gas.

Und tatsächlich: Es ist der perfekte Ritt. Nach 4,2 Sekunden streift die rote Tachonadel die weiße 100, nach 13 Sekunden die 200. Die Gangwechsel knallen in Sekundenbruchteilen, die Zylinder dröhnen, der Fahrtwind pfeift schrill durch die Lufteinlässe. Erst kurz über 250 km/h stoppt die elektronische Sperre den Rausch der Geschwindigkeit. Ich glaube die Hitze der Bremsscheiben und des Motors zu spüren, durch den Benzin und Öl pulsieren wie Blut durch den Körper eines Tieres. Der M6 ist jetzt heiß, angespannt, er will gefordert werden. Ich trete abrupt in die Bremse und schalte über die Lenkrad-Schaltwippen mit kurzen, fauchenden Zwischengasstößen herunter, um den Beschleunigungsakt gleich noch einmal zu vollziehen.

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Später, als ich wieder im Automatikmodus über die nächtliche Autobahn gleite, versuche ich die faszinierende Ambivalenz des BMW M6 noch einmal zu rekapitulieren: Kein anderes Auto kann in wenigen Augenblicken eine derart gleitende Verwandlung vom luxuriösen Gran Turismo Coupé zum animalisch-heißblütigen Supersportwagen vollführen; keines kann richtungsweisende Motorsporttechnik mit First-Class-Komfort so perfekt in Einklang bringen. Als Label steht das „M“ auf dem Heck des neues BMW M6 einfach für mehr Performance, mehr Style, mehr Freude am Fahren. Der Einstiegspreis von 106.500 Euro ist da nur der gerechte Pfand für den Schlüssel zur hochmotorisierten Individualität.

Text & Fotos: Jan Baedeker


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