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Bentley Azure T: The Art of Grand Touring

Mit dem neuen Bentley Azure T haben wir die Rückkehr auf die Straße erprobt und zwischen England und der Schweiz die Geister des Grand Tourism erweckt. Als adäquates Begleitfahrzeug diente uns – man gönnt sich ja sonst nichts – ein Bentley Continental Flying Spur Speed.

 

Neunzig Jahre Bentley, neunzig Jahre kultiviertes Reisen. So sollte man zumindest meinen. Doch in Zeiten von NetJets und HON-Circle findet man den klassischen Gentleman Driver immer seltener hinter dem Steuer und immer öfter in der Luft. Für die Strecke London – Zürich benötigt der durchschnittliche Flugreisende heute rund zweieinhalb Stunden. Genügend Zeit also, um E-Mails auf dem Blackberry zu bearbeiten, die Headlines des neuen Economist zu überfliegen und das trockene Risotto aus der Bordküche mit einem Tomatensaft herunterzuspülen. Kurzum: Wir leben in einer phantastischen Zeit – und drohen angesichts der Mobilitätsstandards unserer Zivilisation jegliche Reisekultur zu verlieren. Denn auch wenn die Fluggesellschaften ihren Vorzugskunden mit First-Class-Lounges und HON-Zirkeln Anderes suggerieren wollen: Kultivierte Fortbewegung sieht anders aus. Die eigentlichen Luxusfaktoren des Reisens sind auch heute noch Selbstbestimmtheit und Zeit zum Erkunden und Erleben. Und während man in 8.000 Metern Höhe bereits die Tische einklappt und Rückenlehnen senkrecht stellt, warten entlang der Straßen Europas ganze Welten darauf, wieder entdeckt zu werden.

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Zur klassischen Reise gehört selbstverständlich ein adäquates Transportmittel, das Langstreckenkomfort mit einer gewissen Sportlichkeit verbindet. Wenn gleichzeitig auch noch Stil, Eleganz und ein distinguierter Auftritt gefragt sind, wird die Auswahl schon relativ klein. Wer es sich leisten kann, findet bei Bentley Motors im englischen Crewe das vielleicht beste Gefährt für eine derart volkommene Art der Fortbewegung – und natürlich auch die passende Historie: Vor 90 Jahren, im Januar 1919, entschloss sich der Automobilhändler und Rennfahrer Walter Owen Bentley, fortan unter eigenem Namen Automobile zu bauen, die seinen sportlichen Vorstellungen entsprachen. Zwischen 1924 und 1930 konnte Bentley beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans gleich fünf Gesamtsiege erkämpfen. Berühmt wurden dabei nicht nur die rasenden Rennwagen, wie etwa der monströse Blower Bentley, sondern auch das Fahrerteam: Die „fabelhaften Bentley Boys“ um Woolf „Babe“ Barnato, einem wohlhabenden Playboy und waghalsigen Rennfahrer, waren dafür bekannt, statt Tod und Teufel nur die Langsamkeit zu fürchten und zur Geburtstagsfeier des Firmengründers auch gerne einmal mit dem feuerspuckenden Rennwagen im Ballsaal des Ritz einzufahren.

Wie Barnato und seine Entourage wussten natürlich auch die solventen Kunden die schönen Dinge des Lebens zu schätzen. So fertigte Bentley bald nicht nur besonders schnelle, sondern auch äußerst elegante und außergewöhnlich komfortable Automobile für die Straße. Nach dem Krieg setzten die Ingenieure etwa mit der Entwicklung eines großen, kraftvollen Achtzylinder-Leichtmetallmotors neue Standards für luxuriöse Reiselimousinen: Der Bentley S2, in dem der V8 im Jahr 1959 debütierte, wurde weltweit für seine souveräne Kraftentfaltung und den einzigartigen Langstreckenkomfort gefeiert. Es ist ebenso erstaunlich wie aussagekräftig, dass Bentley dieses Motorenkonzept bis heute unbeirrt und nahezu unverändert weiterverfolgt: Die aktuellen Bentley-Baureihen Arnage, Azure und Brooklands werden ebenso von einem in mühevoller Handarbeit gefertigten 6,75 Liter V8-Aggregat angetrieben wie auch der neue Bentley Mulsanne, der ab 2010 die Thronfolge des Arnage übernimmt. Nachdem Bentley im Jahr 1998 von der Volkswagen Gruppe übernommen wurde, kam mit dem großen W12-Motor jedoch eine neue, moderne Antriebsvariante dazu, die ihren Einstand mit großem Erfolg in der Continental-Serie feierte. Heute stärkt der Zwölfzylinder mit seiner Kombination aus High-Tech-Produktion, Manufaktur-Qualität und der gewissen „British Coolness“ die Position der Marke im globalen Kampf um Marktanteile im Luxussegment.

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Im Jack Barclay Showroom am Londoner Berkeley Square treffen Tradition und Moderne von Bentley direkt aufeinander. Seit 1927 kauft die feine Gesellschaft hier in Mayfair ihre Bentley und Rolls-Royce; heute zählt Jack Barclay zu einem der weltweit erfolgreichsten Händler für britische Luxusautos. Ein angemessener Ort also, um die beiden Reisemobile für die Grand Tour nach Zürich entgegen zu nehmen. Im zähflüssigen Londoner Innenstadtverkehr, zwischen schwarzen Cabs und gesichtslosen Kleinwagen von der Stange, fährt sich der windsorblaue Bentley Azure T wie ein Wesen vom anderen Stern: Mit fast fünfeinhalb Metern Länge und einem Gewicht von knapp drei Tonnen erreicht das Cabriolet die Dimensionen eines Mercedes Sprinter. Der Achtzylinder-Traditionsmotor setzt in der noch sportlicheren „T“-Ausführung mit 500 PS das Leistungspotenzial eines Le-Mans-Rennwagens dagegen, während man die wunderbar duftenden Nussbaumwurzelholz- und Ledervariationen im Innenraum so lange einem Teesalon des Buckingham Palace gleichen, bis sich lautlos das siebenlagige Leinenverdeck öffnet und die kostbare britische Sommersonne zum Griff nach der Sonnenbrille animiert. Der Bentley Azure T ist eine gewaltige, Ehrfurcht gebietende Erscheinung, der trotz aller Nonchalance wie aus der Zeit gefallen wirkt. Er ist der letzte echte Blaublüter im automobilen Klassensystem. Und genau darin liegt sein Geheimnis.

Der Bentley Continental Flying Spur verfolgt derweil einen anderen Kurs. Die von Dirk van Braeckel entworfene, sanft geschwungene Linie wirkt very contemporary und prägt mittlerweile das Straßenbild sämtlicher wichtigen Luxusboulevards von der Pariser Rue Saint-Honoré über die Londoner Savile Row bis hin zum unumgänglichen Rodeo Drive in Beverly-Hills. Dabei ist die Limousine mehr als ein mondäner Shopping-Transporter für vier bis fünf Personen. Vor allem in der schnellen „Speed“-Version mit 610 PS starkem W12-Motor empfiehlt sich der Viertürer als idealer Reisewagen: mühelos gleitend und unaufgeregt grummelnd, bei Bedarf aber auch agil, aggressiv und unfassbar schnell – schon auf den ersten Meilen der M20 in Richtung Ärmelkanal zeigt sich das gesamte Charakterspektrum. Bis zu 320 Stundenkilometer erreicht der Sportwagen im Maßanzug. Könnte man die 1.000 Kilometer nach Zürich wie auf einem Salzsee in Utah ohne Unterbrechungen mit Höchstgeschwindigkeit durchfahren, wäre man nach drei Stunden und 15 Minuten am Ziel - kontinuierlicher Betankung in voller Fahrt natürlich vorausgesetzt. Dass man dem Kontinentalexpress sein Leistungs-Potenzial erst auf den zweiten Blick ansieht, ist Teil einer höchst britischen Understatement-Politik, die gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer mehr Anhänger findet. Und zwar nicht nur in der neutralen Schweiz, sondern weltweit.

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Der eindrucksvoller Sportsgeist steht derweil in keinem Kontrast zum gediegenen Anspruch der beiden Modelle; im Gegensatz zur Chauffeurs-Manufaktur Rolls-Royce gilt Bentley seit jeher als Selbstfahrer-Marke: Hier greift der Master höchstselbst ins Steuer und tritt mit handgerahmten Lederstiefeletten aus der James Street das Gaspedal durch. Soweit die Theorie. In der Realität benötigt man für ein vollkommenes Fahrerlebnis nicht nur einen qualifizierten Schuhmacher, sondern auch die entsprechend freie Strecke. Während das stark frequentierte südenglische Straßennetz eher die beeindruckende Fadingstabilität der Keramikbremsen demonstrieren, finden sich jenseits des Kanals, im Norden Frankreichs, fast menschenleere und wunderbar geschwungene Autobahnstrecken durch endlose Raps- und Getreidefelder. Das sanfte Auf und Ab ist wie gemacht für die beiden Maschinen aus Crewe, die ihre Leistung – ganz aristokratisch – nicht bloß aus Pferdestärke, sondern vor allem aus einem fulminanten Drehmoment schöpfen: Eintausend Newtonmeter stemmt der Achtzylinder des Azure T, 90 Prozent davon sind bereits zwischen 1.800 und 3.800 Umdrehungen verfügbar. So surft man auf handvernähten Clubsesseln, umweht von salziger Seeluft, auf einer endlosen Welle der Kraft über Hügel und Täler. Nach 5,5 Sekunden streift die rote Tachonadel die 100 km/h, die Höchstgeschwindigkeit liegt bei stürmischen 288 km/h. Die gewaltige Straßenyacht dabei auf Kurs zu halten, verlangt vom Fahrer allerdings stetige Aufmerksamkeit – und von der Fahrerin ein passendes Carré, um die Sicht nach vorn nicht im wehenden Haar zu verlieren.

Wer die Region Champagne-Ardennes nicht bloß als Farbschlieren im Augenwinkel wahrnehmen möchte, verzichtet auch im Flying Spur Speed auf das langfristige Ausreizen des maximalen Drehmoments – immerhin 750 Nm ab 1.750/min – und erfreut sich stattdessen für einige Momente der herrschaftlichen Ausstattung. Denn die macht einen Bentley mindestens ebenso aus wie seine Laufruhe und Motorkraft. Nur makellose Leder, perfekt gemaserte Wurzelhölzer, beste Teppiche und formvollendete Chromapplikationen verlassen das Werk in Crewe, wo Handarbeit immer noch als Marktvorteil gegenüber einer vollautomatisierten Produktion gehuldigt wird. Feine Unterschiede zwischen den Baureihen gibt es dennoch: So kommt im Continental vor allem Furnier, im Azure dagegen Massivholz zum Einsatz. Zudem erhält der handgefertigte Achtzylinder-Motorblock des Traditions-Cabriolets eine Plakette mit der Signatur des verantwortlichen Ingenieurs. Die Lackierung und Innenausstattung jedes einzelnen Modells sind ebenfalls bis zu den jeweiligen Spezialisten persönlich zurück zu verfolgen. Zum Hoflieferanten von Queen Elizabeth II. hat es Bentley letztlich durch die Individual-Linie Mulliner gebracht, der letztlich jeden royalen Wunsch erfüllt. Von der Verarbeitung der alten Familieneiche bis hin zur Full-Metal-Jacket-Panzerung gegen Raketenbeschuss sind der Schaffenskraft der Special Unit, die nicht zufällig an das Labor von Q in den James-Bond-Filmen erinnert, keine Grenzen gesetzt.

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Wer mag, kann in seinem Bentley Arnage T natürlich wie in einer Luxus-Eremitage durch die Lande gleiten und – hermetisch abgeschottet gegen die allzu gewöhnliche Außenwelt und symphonisch begleitet von 1.100 Watt aus der maßgefertigten Surround-Anlage vom britischen Hi-Fi-Spezialisten Naim – neue Stufen der Tiefenentspannung erreichen. Dagegen spricht jedoch die Idee unserer Reise und der kleine silberne Verdeckknopf auf der hochglanzpolierten Holzkonsole, mit dem sich Wind, Wetter und die Welt am Straßenrand binnen Sekunden in die Wahrnehmung des Fahrers zurück holen lassen. So zieht man staunend durch die Ruinen des Circuit de Reims-Gueux – von 1926 bis 1966 eine der wichtigsten Rennstrecken Frankreichs, heute das bröckelnde Monument rasanter Epochen – und entscheidet vielleicht mit Blick auf den Sonnenstand, die Grand Tour für einen Zwischenstopp in der Champagner-Hauptstadt Reims bis zum nächsten Morgen zu unterbrechen. Denn spätestens wenn man am Abend die Gläser erhebt, während draußen im Hof immer noch die heiße Luft über den Motorhauben flimmert und am Abendhimmel langsam die Kondensstreifen der Geschäftsflieger verblassen, stellt sich die Frage nach der wahren Kunst des Reisens nicht mehr.

Nach einer Nacht in französischen Landhausbetten, die vielleicht schon dem Bentley-Boy Woolf Barnato und einer seiner zahlreichen Co-Pilotinnen als Pit Stop auf dem Weg nach Le Mans oder an die Côte d'Azur gedient haben, ist es am nächsten Morgen ein wahrhaft erhebendes Gefühl, wieder die Steppnähte der Sitze zu spüren, die Finger über den verchromten Schaltknauf gleiten zu lassen und die Motoren in der frischen Morgenluft aufdonnern zu hören. Natürlich ist die Zeit der Blower Bentleys längst vorbei. Dennoch ist es faszinierend, wie viel Geschichte sich auch in den neuen Modellen wiederfindet, wenn man sich erst einmal auf die Zeitreise eingelassen hat. Trotz der Übernahme durch die Volkswagen Gruppe hat es Bentley geschafft, den handwerklichen Mythos der Marke zu wahren und die Leitungen in die Vergangenheit jederzeit offen zu halten – vielleicht so konsequent wie keine andere Marke. In jedem Detail, sei es im energiegeladenen Motorenklang des Azure oder in der distinguierten Silhouette des Flying Spur, erkennt man die Tradition von 90 Jahren anspruchsvollsten Automobilbaus. Und auch der Fahrer trägt einen Teil der Verantwortung, die sich aus dem großen Erbe ergibt – und sei es nur, die Geister des Grand Tourism von Zeit zu Zeit neu zu erwecken.

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Glücklicherweise finden sich auch auf der Weiterfahrt in Richtung Schweiz die wichtigsten Voraussetzungen zur Geisterbeschwörung: schöne Straßen. So durchfährt man zunächst auf schier endlosen Geraden die grünen Weiten Lothringens, passiert die pastellfarbene Kulisse der elsässischen Vogesen, nutzt ein kurzes Stück unlimitierte Autobahn zum Frischmachen und schwingt sich wenig später mit genau dosierten Gasstößen die Serpentinen des Schwarzwalds hinauf, dessen dichte und dunkle Tannenbestände den Klang der beiden Fahrmaschinen zurückwerfen wie eine natürliche Echokammer. Hier ist sie noch einmal deutlich spürbar, die große britische Sportlichkeit. Später, auf den gewundenen Uferstraßen des Zürichsees, darf die Reise schließlich sanft ausklingen, bevor man beim Apéro auf der Terrasse des Dolder Grand die Eindrücke des Tages rekapituliert - oder einfach nur den Blick über die im Abendlicht glühenden Alpen schweifen lässt. Mehr als hundert eindrucksvolle Passstraßen warten dort oben auf ihre Wiederentdeckung. Die nächste Grand Tour ist eben immer nur eine Idee entfernt.

Fotos: Jan Baedeker