Direkt zum Inhalt

Magazin

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Mit dem neuen Bentley Mulsanne wird die mehr als 60-jährige Tradition der großen Achtzylinder aus Crewe fortgesetzt. Doch kann sich das Luxuskonzept auch gegen den neuen Rolls-Royce Ghost durchsetzen? Der britische Autor John Simister hat das neue Bentley-Flaggschiff für Classic Driver getestet.

Früher war alles so einfach: Im Grunde gab es an der Spitze des Limousinen-Segments nur ein einziges Automobil – und das kam aus Crewe, Cheshire, England. Es verfügte über einen kraftvollen V8-Motor mit 6,75 Litern Hubraum. Es war groß, imposant und sehr teuer. Sicherlich, es gab schon damals mehrere Versionen. Doch die Unterschiede beschränkten sich darauf, dem selben Automobil verschiedene Akzentuierungen zu geben. Wer den ultimativen Genuss und das Gefühl von „Waftability“ suchte, entschied sich für das Rolls-Royce-Emblem. Mochte man es etwas sportlicher und dynamischer, griff man zum Bentley-Schlüssel. Ein Automobil, zwei Persönlichkeiten. Doch dann kamen die Deutschen. BMW kaufte Rolls-Royce, VW kaufte Bentley – und aus den einstigen Freunden wurden Konkurrenten. Nicht ganz, um genau zu sein. Denn während Rolls-Royce mit dem gewaltigen Phantom noch deutlicher „upmarket“ positioniert wurde, suchte Bentley mit der Continental-Serie den Erfolg bei der Masse – und erreichte in kürzester Zeit nie dagewesene Verkaufszahlen.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Zunächst konnten beide Marken durch ihre unterschiedliche Ausrichtung die direkte Konfrontation umgehen. Doch dann kam, was kommen musste. Beschwingt von den Erfolgen mit dem Phantom entschieden Rolls-Royce und BMW, ein kleineres und sportlicheres Modell ins Programm aufzunehmen. Der Rolls-Royce Ghost zielte genau auf die Marktposition, die seit den frühen 1980er Jahren von den Turbo-Bentleys eingenommen wurde. Als moderne und zugleich dynamische Maschine, ließ der Rolls-Royce Ghost den fest etablierten Bentley Arnage so anachronistisch erscheinen wie einen Dinosaurier auf Rädern. Doch Bentley hatte im Zuge der „Teutonischen Scheidung“ nicht nur die Fabrik in Crewe, sondern auch das traditionsreiche Achtzylinder-Konzept gesichert – und setzte sich mit diesem Trumpf dem Expansionskurs von Rolls-Royce entgegen.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Der neue Bentley Mulsanne, vergestellt im Sommer 2009 beim Concours d’Elegance in Pebble Beach, steht mit seinen gewaltigen Dimensionen und dem großen Twin-Turbo-V8 zwar ganz im Sinne der ausgemusterten Arnage-Baureihe – einen Dinosaurier kann man ihn aber keinesfalls nennen. Denn auch wenn der Name auf die erste Turbo-Generation verweist: Das Automobil wurde von Grund auf neu entwickelt. Zwar sehen weder die Ingenieure, noch die Marketing-Fachmänner aus Crewe den Mulsanne wirklich als Konkurrenten zum Ghost. Doch wenn man ehrlich ist, kann nur eine Aussage gelten: Zum ersten Mal in der Automobilgeschichte stehen sich Rolls-Royce und Bentley Auge in Auge gegenüber.

Im Vergleich der beiden Über-Limousinen ist es überraschenderweise der Bentley Mulsanne, der dem Zauberwort bespoke am deutlichsten entspricht. Der Motor, die Aufhängung, die Struktur – nichts wurde von einem anderen Automobil entliehen. Das Design, die Ingenieursarbeit, die Produktion – alles geschah vor Ort, in den heiligen Handwerkshallen in Crewe. Wie beim Ur-V8 von 1959 kommen im Achtzylinder-Triebwerk des Mulsanne immer noch Stößelstangen und nur zwei Ventile pro Zylinder zum Einsatz. Zudem verfügt das Triebwerk über keilförmige Brennkammern und sehr kurze Auslasswege zum Ableiten der heißen Abgase. Früher konnte der Motor dadurch kompakt gebaut und seine Hitzeentwicklung gering gehalten werden. Heute sorgt diese Technik, so erläutert man mir, zudem für eine besonders saubere Verbrennung. Anders als beim Ur-Motor sind heute Komponenten wie etwa der Motorblock oder die Zylinderköpfe aus Aluminium gefertigt. Alle Guss- und Schmiedeteile sind übrigens neu konstruiert worden, auch wenn der Hubraum mit dem Vorgänger-Aggregat übereinstimmt. Den Unterschied kann man etwa im Benzinverbrauch oder dem CO2-Ausstoß ablesen: Beides wurde um rund 15 Prozent reduziert, wobei die 16,9 Liter Kraftstoff und 393 Gramm CO2 auf 100 Kilometer wahrlich kein Grund zur Freude sind.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Fachkundige Bentley-Fahrer wird dennoch interessieren, dass der Achtzylinder über eine Nockenwellenverstellung und eine Zylinderabschaltung verfügt. Bei gelassener Fahrt fallen automatisch vier der acht Zylinder in den Schönheitsschlaf. Setzt man dagegen alle Zylinder unter Dampf, leistet der Motor des Bentley Mulsanne stolze 512 PS. Zum Vergleich: Aus dem V12 des Rolls-Royce Ghost lassen sich 575 PS generieren. Markenkenner wissen natürlich, dass man einen Bentley nicht nach seinen Pferdestärken, sondern mit Blick auf das Drehmoment bewertet. Beeindruckende 1.020 Newtonmeter stemmt das Triebwerk – und setzt damit auf moderne Weise fort, was die großen Achtzylinder aus Crewe seit mehr als 60 Jahren verkörpert haben. Die starke Verbindung zur Tradition sieht man dem Mulsanne übrigens auch an: Die runden Scheinwerfer, die langgezogene Front, das stämmige Heck – die Vorbilder für das Design stammen eindeutig aus den 1950er Jahren.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Wer sich dem Retro-Gefühl hingeben möchte, kann den Maschendraht-Kühlergrill mit einer verchromten Umrandung bestellen und darüber das passende „Flying B“ montieren lassen. Zum klassischen Look passt auch die weit nach hinten versetzte, sanft abfallende C-Säule, die den Bentley Mulsanne in der Heckansicht so kurz und knackig herüber kommen lässt. Zeitgenössisch dagegen fällt dagegen die ausgestellte Kofferraumklappe aus, genauso die vorderen Flanken, die per Aluminium-Heißpressung in die gewünschte Form gebracht wurden. Auch im Innenraum treffen Tradition und Moderne aufeinander. Natürlich gibt hier kein Material vor, etwas anderes zu sein. Einzige Ausnahme: Die Schalter, von denen man zunächst nicht erwarten würde, dass sie aus schwarzem Glas bestehen. Für den trendbewussten Gentleman gibt es ein lederbezogenes iPod-Dock und wer das serienmäßige 14-Wege-System als ungenügend befindet, kann bei der britischen High-End-Audiomanufaktur Naim ein System mit 2.200 Watt und 20 Lautsprechern ordern. Neben zahllosen, mitunter atemberaubenden Leder- und Holzkombinationen bietet Bentley für den Mulsanne mehr als einhundert Außenfarben. Wer möchte, kann natürlich auch einen eigenen Farbton, ein eigenes Leder, ein eigenes Holz für die Ausstattung wählen. Wenn es unbedingt sein muss, lackiert Bentley den Mulsanne auch in Pink mit Perleffekt.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Die erste Überraschung für den Fahrer: Man sitzt tiefer als im Arnage, das Lenkrad ist kleiner und dicker, dahinter sitzt dominant ein Drehzahlmesser. Ein Bentley für den Sportsmann, so ist die Limousine positioniert. Für den unwahrscheinichen Fall, dass die neue Achtgang-Automatik nicht dynamisch genug reagiert, hat Bentley am Lenkrad zusätzliche Schaltpaddel angebracht. Ein Sportprogramm sowie Einstelloptionen für die Luftfederung sollen es dem performanceorientierten Fahrer zudem ermöglichen, die gewünschte Fahrwerkscharakteristik zu wählen. Der Rolls-Royce Ghost verzichtet übrigens auf derartige Sportwagen-Spielereien, hier unterscheiden sich die Markenphilosophien vielleicht am deutlichsten.

Ich drücke den Startknopf, bin mir aber nicht sicher, ob der Motor wirklich läuft. Langsam setzt sich der große Wagen in Fahrt. Drehzahlorgien sind dem Triebwerk glücklicherweise fremd, die maximale Leistung ist bereits bei 4.200 Umdrehungen verfügbar. Die Gangwechsel sind derweil deutlich zu spüren. Ungewohnt für Nicht-Bentleyfahrer: Tachometer und Drehzahlmesser laufen traditionsgemäß gegen den Uhrzeigersinn. Bei entsprechendem Befehl erreicht der Bentley Mulsanne eine Höchstgeschwindigkeit von 296 km/h, die 100-Kilometer-Marke streift die 2,6 Tonnen schwere Limousine nach 5,6 Sekunden. Bei voller Beschleunigung ist aus den Tiefen der Front ein dumpfes Grollen zu vernehmen, ansonsten arbeitet die V8-Maschine so gut wie lautlos. Auch der Wechsel zwischen Vier- und Achtzylinder-Betrieb erfolgt unbemerkt. Die Überholqualitäten des Mulsanne sind schlichtweg atemberaubend. Außerhalb des Sportprogramms fallen die Pausen zwischen Gasstoß und Motorreaktion jedoch ein wenig zu lange aus. Der Rolls-Royce Ghost, so wage ich hier zu behaupten, hat seine Newtonmeter ein wenig besser im Griff.

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Manche Automobile fühlen sich mit der Zeit immer kleiner an. Beim Bentley Mulsanne besteht diese Gefahr allerdings nicht. Man ist sich der 2.585 Kilogramm und den gewaltigen Abmessungen jederzeit bewusst. Dennoch legt sich das neue Flaggschiff mit bemerkenswerter Dynamik in jede Kurve. Das befürchtete Untersteuern bleibt aus, und auch die Reifen kleben fest am Asphalt. Das Fahrverhalten ist, man muss es so sagen, einfach wundervoll und die Komfort-Einstellung super-flexibel, ohne das Übelkeit auslösende Wippen amerikanischer Limousinen. Der Sport-Modus dagegen fällt derart knackig und direkt aus, dass von seinen Gebrauch zumindest so lange abzuraten ist, bis die zahlreichen Schlaglöcher des letzten Winters einigermaßen ausgebessert sind. Natürlich gibt es nicht nur diese beiden Extreme, sondern auch einen Custom Mode, in dem man die Steuerungs- und Dämpfercharakteristiken entsprechend der eigenen Vorlieben einstellen kann. Dr. Ulrich Eichhorn, Bentleys Chefingenieur, setzt beispielsweise auf eine straffe Lenkung bei weicher Federung.

Der Bentley Arnage vermittelte zu seinen Hochzeiten immer das Gefühl, als würde eine epische Kraft den Wagen in ihre eigene Richtung ziehen, was nicht jeder Fahrer gleichwermaßen zu schätzen und bändigen wusste. Er war ein großer, aber auch fehlerhafter Wagen. Der neue Bentley Mulsanne nutzt zwar die gleichen Zutaten wie der Arnage, kombiniert diese aber in einem neuen, deutlich verbesserten Rezept. Alles funktioniert einwandfrei. Und es fällt schwer, sich ein besseres Flaggschiff vorzustellen, das die Tradition der großen Achtzylinder-Modelle in die Zukunft führen soll. Der Mulsanne ist elegant, luxuriös und unglaublich kraftvoll. Das einzige Problem könnte nun noch sein, dass im neuen Rolls-Royce Ghost ebenfalls der Geist eines sportlichen Bentley steckt. Und dass dieser nicht 255.000 Euro wie der Mulsanne, sondern nur 225.000 Euro kosten soll. Aber deratige monitäre Vergleiche sind sowieso verabscheuenswürdig, nicht wahr?

Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe
Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe
Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe
Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe Bentley Mulsanne: Ein großes Erbe

Text: John Simister – übersetzt aus dem Englischen von Classic Driver
Fotos: Bentley


ClassicInside - Der Classic Driver Newsletter
Jetzt kostenlos abonnieren!