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Lamborghini Gallardo

Bling. Das kleine rote „T“ wie Tiefgarage leuchtet im Fahrstuhldisplay auf, dann öffnet sich die Tür und ich trete in das flache, geometrische Gewölbe, drei Meter unter der Erde. Kurz müssen sich meine Augen an das künstliche Licht gewöhnen, dann steht er vor mir wie die Verlockung zur Sünde, der schrillgelbe Apfel der Begierde im Paradies der automobilen Eintönigkeit. „Nimm mich“, scheint er augenblicklich zu flüstern, „du kannst mich haben, hier und jetzt.“ Sirenengesang, denke ich, Loreley. Jetzt nicht gleich schwach werden. Ihn, den ich auf unzähligen Fotografien mit Blicken betastet habe, empfinde ich hier unten im Neonlicht dieser kühlen Tiefgarage unnatürlich körperlich und dimensional. Wie eine perfekt ausgeleuchtete, scharfkantige Skulptur in einer dieser modernen und völlig kahlen Galerien in London oder Berlin, White Cubes genannt. Betrachten erlaubt, berühren verboten.

Doch das genau ist es, was ich will. Kühle Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Mir wird bewusst, dass ich einen Schlüssel in der Hand halte. Den Schlüssel. Wie in einem Schraubstock. Ich lockere den Griff, betrachte das schwarze Stück Plastik ungläubig auf meiner Handfläche und drücke wie in Zeitlupe den Knopf mit dem Symbol eines offenen Schlosses. Es klickt, es blinkt. Mir wird einen Moment schwarz vor Augen, dann geht alles rasend schnell. Ich presse mich in den schwarzen Ledersportsitz, drehe den Schlüssel, trete aufs Gas. Ein kurzes, raues und nervöses Bellen hallt durch die Tiefgarage. Erschrocken ziehe ich den Fuß zurück, nur um es Sekunden später noch einmal zu probieren. Sofortiges unbändiges Brüllen. Im Rückspiegel sehe ich ein seltsam unbekanntes Grinsen über mein Gesicht zucken. Ich ziehe das rechte Schaltpaddel zu mir und lege den ersten Gang ein. Dann Schnitt.

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Nächste Einstellung: Autobahn, linke Spur. Mein Kopf ist leer. Mein Herz schlägt schnell. Vor mir weichen die Autos fast erschrocken auf die rechte Spur. „Weichet“, zische ich, „zeiget Demut.“ Die dünne rote Nadel des Tachometers zuckt nervös um die weiße 280 auf schwarzem Grund. Hinter meinem Kopf und meiner Wirbelsäule ist nichts als das satanische Brüllen der Zylinder. Es ist die absolute Versuchung. Und der freie Wille nicht mehr als eine Illusion für all die Anderen in ihrer stufenheckumnebelten Unwissenheit. Ich werde mit Gewalt nach vorne gerissen. Mitgezogen wie von einem unbändigen Tier. Nichts, so scheint mir, kann meinen Ritt aufhalten. Dann die 300. Ich werde mit einem Mal ruhig und gelassen, alles ist jetzt ganz hell und klar. Ich habe eine neue Stufe erreicht. Angst ist mir fern. Der Tritt auf die Bremse holt mich zurück in die Realität.


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Szenenwechsel. In der Nacht fällt es mir schwer einzuschlafen. Zu stark sind die Bilder in meinem Kopf; zu berauschend der eine Gedanke: Für die nächsten sieben Tage gehört er mir allein. Der Aggressor, der Minimalist, der Lamborghini Gallardo. 500 PS, 510 Newtonmeter und zehn Zylinder gebündelt unter einer kristallinen Oberfläche von mythischer Strahlkraft. Erschaffen von Luc Donckerwolke, dem Meister der Reduktion, der mit dem „kleinen Lamborghini“ die Renaissance der Kantigkeit einläutete. Auch der Fernseher kann mich ausnahmsweise nicht schläfrig stimmen. Überall blitzen Felgen, heulen Motoren, quietschen Bremsen. Als 50 Cent auf MTV böse grinsend aus einem Lamborghini Murciélago steigt, nehme ich zwei Baldriantabletten.

Der nächste Tag beginnt trotz unruhiger Träume relativ entspannt und ich habe erstmals die Gelegenheit, mich voll und ganz auf meine Aufgaben als Testfahrer zu konzentrieren. Im Hamburger Freihafen drehe ich die ersten Runden und bin überrascht, wie leicht sich der Gallardo auch im unteren Geschwindigkeitsbereich handlen lässt und wie komfortabel und präzise die E-Gear-Lenkradschaltung arbeitet. Dank der Mittelmotor-Anordnung hat der Gallardo einen sehr niedrigen Schwerpunkt, ist im Motorlauf allerdings auch etwas unruhig, was ich aber nicht unbedingt als Nachteil wahrnehme. Der Allradantrieb mit Visco-Kupplung, der übrigens nicht von Audi übernommen, sondern eigens für den Lamborghini entwickelt wurde und beim Beschleunigen 80 Prozent der Kraft auf die Hinterräder drückt und in Kurven nach Bedarf variiert, ist die Traktion auch auf rutschigem Untergrund fast optimal. Mit diesem Wagen würde ich ohne Bedenken in den Winterurlaub fahren – auch wenn das Gepäckvolumen dafür doch sehr begrenzt wäre.

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Zur kompakten und restlos durchkonzipierten Karosserieform fügt sich das knappe Interieur, das den Fahrer umschließt wie ein lederner Skischuh. Die Sitze sind bequem und bieten guten Halt, obwohl ich mit über 1,90 Metern Körpergröße doch etwas zu groß für den kompakten Innenraum bin und schnell das Gefühl bekomme, einer Querschnittslähmung unvermeidlich ins Auge zu sehen. Die Frontscheibe ist groß und extrem flach; die Keilform des Wagens dank der markanten A-Säulen immer präsent. Die Rundumsicht ist gewöhnungsbedürftig, allerdings nicht so unverantwortlich wie beim großen Bruder, dem Murcièlago. Die Gestaltung der Mittelkonsole und die verwendeten Schalter sind äußerst funktional, halten allerdings nicht mit ihrer Ingolstädter Herkunft hinterm Berg. Wenn man bedenkt, in welchem Maß die Mutterfirma Audi den Lamborghini Gallardo ansonsten aufgewertet hat, lässt sich dieser Mangel an Individualität jedoch leicht verschmerzen.

„Ein Sportwagen ist je nach Betrachtung die Übertreibung, die Essenz, die Sünde, das Wesen oder die Zukunft des Automobils“, schreibt der Autor und Journalist Ulf Porschardt in seinem Buch Über Sportwagen. Ich will es genau wissen und treibe den Gallardo mit einigen gezielten und lauten Tritten aufs Gas zurück in die Innenstadt, wo ich mir Feedback auf die unwirkliche Aura des gelben Mittelmotor-Geschosses erhoffe. Bereits die ersten Reaktionen übersteigen meine Erwartungen ins Groteske: Junge Männer gehen an der Ampel auf die Knie und küssen die Fronthaube, kreischende Schulklassen versuchen, mir durchs offene Fenster die Hand zu schütteln, Menschen jeden Alters und Geschlechts stürmen heran und zücken ihre Fotohandys, wenn ich den V10 kurz aufbrüllen lasse. Ich fühle mich wie der junge Brad Pitt bei seiner ersten Oscarverleihung und stelle mich innerlich schon darauf ein, mit Reizwäsche beworfen zu werden. Als mich später im Supermarkt ohne den Lamborghini niemand mehr anfassen und fotografieren möchte, kann ich mir auf einmal vorstellen, was für eine schwere Bürde verblassender Ruhm sein muss.

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Letzte Einstellung. Wieder die Autobahn. Wieder die linke Spur. Ich bin mit dem Lamborghini zu einer Einheit verschmolzen, zu einer perfekten Symbiose aus Mensch und Maschine. Der Zehnzylinder in meinem Rücken singt seine brutale Hymne nach meinem Takt. Raum und Zeit krümmen und strecken sich nach den Befehlen meines Gasfußes. Ich habe eine Weltflucht angetreten, wie sie erdverbundener nicht sein könnte. Der leere Beifahrersitz neben mir bleibt frei für eine Erfüllung, die den Ritt beenden kann. Doch noch bin ich hier, allein mit der Maschine, auf einer freien linken Spur. Mein Herz schlägt schnell. Ich schalte mit einer Fingerspitze in den vierten Gang, trete aufs Gas. 190, 210, 230. Fünfter Gang. Schnitt. 280, 290, 300. Die Bedeutung des Sportwagens ist sein Gebrauch. Schnitt. 307, 308, 309. Die Straße ist ein unendliches Band. Ich schaue nicht zurück. 310. Ich werde ruhig. Schnitt.


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Text: Jan Baedeker
Fotos: Timo Großpietsch, Miguel Martinez, Jan Baedeker


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